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Tagebuch 1924
15.I.
Ich bin so ohne innere Muße in dieser gottverfluchten Jahreszeit, in der man alle-
weil* unnatürlich kalt oder heiß hat, daß ich auch zu den täglichen Eintragungen
wenig Lust habe. Gestern abends bei Steiners, mit Kaschnitz u. Grimschitz, furchtbar
viel Witze gemacht. Kaschnitz erzählte vom Tischrücken, darauf Steiners, daß Frau
Dvořak ein Medium kennen gelernt habe, das ihr immer den Geist ihres Gatten
beschwöre. Sie hat ihn gefragt, ob ein Testament vorhanden, er hat es verneint. Er
hat ihr auch gesagt, daß er mit ihr zufrieden sei. Heute mit den Halledamen Durch-
schnittskünstler (vläm[isch] 17. Jh.) im Kunsthistor[ischen] angesehen. Nachmittag
tele ph[o niert] mit Floch, daß er ein tadelloses Podium in die Albertina am nächsten
Morgen für mich führen wolle.7
Ich hatte ihm am Samstag, als er abends bei mir war, gesagt, daß ich gerne ein hö-
heres Podium hätte, um auch von den letzten Reihen aus gesehen zu werden, weil die
Leute nicht aufpassen, wenn sie nicht sehen (bez[iehungsweise] gesehen werden). Ich
gehöre nämlich zu diesen Leuten. Hab’ mich beim Eidlitz in der letzten Bank nicht
sehr brav aufgeführt
…
Die letzten Tage war ich viel mit den Kindern zusammen.
17.I.
Gestern den ganzen Tag fast im Bett, „Stimme geschont“. Abends also mein dichte-
risches Debut. Zuerst „Hochzeit d. Tobias“ – die Leute, die vorn gesessen sind (bis
gegen d. Mitte), waren „hingerissen“
– hinten hat man nichts verstanden. In d. Pause
hat mir Hans gesagt, daß ich anders (lauter u. unmodulierter) lesen müsse ; ich hab’s
getan u. man war mit mir zufrieden. Gedichte : Großstadt, die Last, Sommer in Wien,
Straßenmusikant, Taschentuch, Mein Name – dann d. Legende. Ich habe für meine
Gedichte eine Formel gefunden : gereimter P. A. – d. h. ich gehöre in diese Linie
hinein, als Historiker interessiert mich das natürlich. Besser noch weibl[icher] P. A.
Dem Hans hat „die Last“ am besten gefallen. Ehrlich hat sich sehr gefürchtet gehabt
vor den Gedichten, wie ich es ja auch immer sagte, daß ich sie nur im Zimmer lesen
kann, wollte schon aus d. Saal hinausgehen – sagte mir aber, er hätte sie noch nie so
plastisch empfunden. Nachher gleich nachhaus. Hans war lieb zu mir
…8
Heute bei Floch im Atelier, ein halbes Dutzend sehr vorgeschrittener Bilder gese-
hen u. durchgesprochen. Schon viel Gutes, nirgends das letzte noch.
18.I.1924
Heut früh bin ich nach Breitenstein gereist. Fast immer allein im gut geheizten
Coupé. Von Gloggnitz an Sonne, von Payerbach an blaßblauer Himmel. Wenig
Schnee, so viel schon weg geschmolzen. Wirklich „die Gegend“ fängt erst hinter Küb
* immer
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien