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Tagebuch 1924
an. Ich bin am Fenster gestanden u. war sehr froh. Weniger beim Abstieg von der
Station Breitenstein hinunter ins Offizierskurhaus, denn es war beängstigend glatt.
Der Hausdiener, der mich mit der Rodel abholte, lud mich ein per Rodel einzufahren,
ich traute mich aber nicht. Im Kurhaus begrüßte mich der Kommandant, Oberstleut-
nant Hönig, nahm mit mir in d. Kanzlei d. Protokoll auf und geleitete mich dann, da
die Liesl nicht zu finden war, in mein Zimmer im 4. Stock. Die Tasche u. den Ruck-
sack mußte ich mir alleine tragen. Ich sehe ja ein, daß es schwer für einen Oberstleut-
nant ist, Hôtelleiter zu werden, aber darum wird es nicht besser, wenn er einer Dame,
noch dazu einer älteren Dame, das Gepäck nicht tragen hilft. Mein Zimmer gegen
Norden u. gegen d. Eisenbahn, es ist momentan kein Südzimmer frei. Der Hausdie-
ner bringt feuchtes Holz in mein Zimmer, das Feuer geht gleich aus. Ich schreibe
bis ½ 7, trotz Kälte u. Verzweiflung, bring es nicht über mich zu läuten. Ich hab gut
gearbeitet, davon bekomme ich den Mut zu läuten. Ein dickes Mädchen kommt, ich
verehre ihr 10.000 K[ronen] Trinkgeld, davon bekomme ich noch mehr Mut – u. auf
diese Weise ein neues Feuer. Ich war aber schon sehr verzweifelt, weiß Gott ja. Das
Essen sagt mir wenig zu. Ich bin ja so furchtbar empfindlich u. hab zuhause doch
immer die Möglichkeit auf meinen Magen zu schauen.9
19.I.1924
Ich glaube, ich bin schon lange Jahre nicht so unglücklich gewesen wie hier in diesem
Breitenstein. In der Nacht endlich warm gehabt, da ich es gestern weder durch Trink-
gelder noch durch Schimpfen zu einem geheizten Zimmer brachte. Bis gegen 4 gut ge-
schlafen. Da kommt punkt vier der Kaminfeger u. natürlich geht der Rauchfang rechts
direkt an meinem Zimmer vorbei. Dann gegen Morgen schlafe ich ein. Werde geweckt,
da sich die gesamte Dorfjugend, laut zwitschernd unter meinem Fenster versammelt.
Was ist los ? Meine Neugier wird sofort befriedigt. Eine Sägemaschine tritt in Funktion,
qualvoller Lärm, setzt nicht mehr aus bis 4 Uhr nachmittag. Ich steh auf und mache
einen Spaziergang Richtung Orthof. Einen Kilometer weit hört man noch die Säge,
dann wird es heilig still. Nach Tisch versuche ich es mit Ohropax mich etwas nach-
schlafen zu legen. Kaum schlafe ich ein, wird an meine Türe geklopft u. der Hausdiener
mit dem Kaminfeger wollen meinen Ofen untersuchen. Er ist tadellos, aber mit nassem
Holz kann niemand heizen. Ich fange zu schreiben an u. es geht sehr gut. Es wird fins-
ter u. das Licht, das um 10 Uhr abends abgedreht wird, ist noch nicht wieder einge-
schaltet worden. Ich muß zwanzig Minuten auf das Licht warten. Inzwischen läute ich
sieben mal, ohne daß jemand kommt. Ich will mir eine Kerze kaufen und heizen lassen.
Der Hausdiener hat mir trockenes Holz zugesagt, und ist nicht gekommen. Endlich
wird es Licht und ich schreibe in der Kälte bis ½
8. Jetzt bin ich nach dem Nachtmahl,
das ich zur Hälfte stehen lassen mußte, da es für mich zu schwer verdaulich war. Wenn
ich aber morgen die Energie aufbringe, irgendwo – aber wo ? – Holz zu kaufen. Sonst
kann ich nicht länger bleiben. Und das alles des leidigen Geldes wegen.
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien