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Tagebuch 1924
Warum aber ist mein Humor flöten gegangen ?
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20.I.1924
Heut ist es so glatt draußen, daß ich kaum bis zur Post hinauf gekommen bin, die
Karte an Hans aufgeben. Die Straße ist furchtbar vereist. Ich habe darum schon um
½ 11 zu schreiben begonnen und siehe da, mir selbst zur großen Überraschung bin
ich jetzt um ¾ 7 Uhr abends mit dem ganzen zweiten Kapitel zu Ende gekommen.
Und ich dachte, daß ich erst morgen fertig werden würde. So nah kann ich es na-
türlich nicht beurteilen, ob nicht manche Stelle dadurch geschleudert ist. Ich muß
ja doch eine Reinschrift machen, da werde ich es dann sehen. – Ich habe lange ge-
schwankt, ob ich ein Liebesmotiv (für Saul) einschließen soll. Bin aber inzwischen
noch davon abgekommen. Solange das Verhältnis zu den Kindern noch im Vorder-
grund steht, scheint es mir nicht am Platz zu sein. Jetzt muß ich mich auf das Stück
umstellen. Da Ehrlich kommt, der doch mit diesen Menschen zu tun hat, wird mir
das nicht schwer werden. Auch in diesem Sinne bin ich eigentlich sehr angenehm
überrascht, schon heute mit dem Saul fertig zu sein. Ich wollte, ich wär zuhaus beim
Hans oder hätte ihn hier u. könnt ihm den Saul vorlesen. Ich wollte ich wär bei ihm,
zuhaus.
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24.I.1924
Sonntag (20.) abends kam Ehrlich in Breitenstein an ; ich habe ihn oben auf d. Bahn-
hof geholt, weil d. Hausdiener Urlaub hatte u. ich wußte, dass er viel Gepäck mit-
brachte. Er bekam ein sonnseitiges Zimmer, man versprach ihm Feuer zu machen
(was ebenfalls keinen Erfolg hatte) u. wir gingen zum Nachtmahl, das die andern
schon beendet hatten. Er konnte sich sofort von der Trostlosigkeit der Umgebung
überzeugen. Post […] spazieren in die kalte Nacht bis zum Viadukt Richtung Ad-
litzgraben. Um 10h im Bett u. finster. Am 21. vormittag (es war viel kälter gewor-
den) hinauf zum Erholungsheim. Nachmittag endlich Feuer im Ofen (Ehrlich hat
da Atelierübung), er hat mich gezeichnet ; das elektr[ische] Licht versagte, ging ganz
aus. Wir daraufhin spazieren (Die Holzschneidemaschine unter meinem Fenster !)
bis zum Nachtmahl. Während des Essens hatte ich einen Kollaps, wie zuletzt in Pa-
ris, aber schwächer. Übermüdung vom Nichtschlafen (Eisenbahn), zu konzentriertes
Arbeiten, nicht zusagende Kost,
– endlich das versagende Lichtgeflacker. Nach Tisch
hat mich Ehrlich beim Licht zweier Kerzen wieder gezeichnet u. ich bin dabei wun-
derbar ruhig geworden. Wir waren ganz schweigsam u. die letzte (4.) Zeichnung,
die er an diesem Abend von mir machte, ist wie ein […] Märchen des Schweigens
geworden. Wie der Mond draußen in der Winterkälte.
– Ich war ruhig geworden, der
Künstler aber durch die Arbeit erregt u. wollte noch mit mir bißchen aufbleiben, ich
wollte aber nach den schlaflosen Nächten die Stille ausnützen u. ging zu Bett. Am
nächsten Morgen fuhren wir nach Payerbach, nachdem wir den Zug nach Mürzzu-
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien