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Tagebuch 1924
genheit ein Rendez-vous bei Würthle gegeben. Ich bin müde von der letzten – von
den letzten
– gestörten Nächten und muß heute Nachmittag zwei Stunden halten.23
8.II.
Gestern gearbeitet (Saul), ein paar Seiten mit großer Mühe, aber dennoch. Gegen
Abend kam Philippi der einen ganz niedergedrückten Eindruck machte. In der ers-
ten Minute, schon als er sich niedersetzte, rückte er mit seinem Jammer und seiner
Bitte um Hilfe heraus. Damit er nicht wieder wie das letztemal (als ich nicht zuhause
war) weggehen würde, ohne gesprochen zu haben, weil er sich nicht das Herz fassen
konnte. Es war furchtbar. Und ich habe doch nur die Liebe und den Mut, wo ich
wirklich auch das Vertrauen zur Kunst habe. Mein Gott, sollen die andern Leute
umsatteln
– oder verhungern ? ?
–
Hans ist auch schrecklich verstimmt. Seine demütigende Stellung im Ministerium
mit immer noch einem Chef, der drein spricht und nichts versteht. Es war ein Glück,
daß Kaschnitz ihn bißchen harmlos zerstreut hat.
–
Gestern abends noch diagnostizierte ich bei mir einen „Bruch“. Heute früh war
ich beim Wendel, der die Diagnose als falsch erkannte, es handelt sich um eine
Nahteiterung, wahrscheinlich stößt sich ein nichtabsorbierter Seidenfaden los, und
die Geschichte wird aufbrechen u. verbunden werden, wieder zuheilen. Eventuell
muß man durch einen Schnitt dem Prozeß nachhelfen, wenn es mich belästigen
sollte. Ich war schon sehr operationsbeunruhigt, aber so – kann ich die Sorge wieder
abschütteln.24
10.II.
Vorgestern abends war ich mit Ehrlich, Floch, Ehepaar Halle in der Vorlesung Las-
ker-Schüler. Leerer Saal, viel Applaus. Stärkster menschlicher Eindruck, vor allem
die hebräischen Balladen. Nie werde ich solche Kunst erreichen und nie will ich
sie erreichen – aber ich habe doch großen Katzenjammer gehabt. Und in d. Nacht
schwere Zwölffingerdarmschmerzen. Den ganzen Vormittag daraufhin im Bett, den
ganzen Tag Diät. Nach Tisch Albertina Tre- u. Quattrocentozeichnungen (am Tag
vorher französ[ische] 19. Jh.) bei Stix angeschaut, die Neuerwerbungen der letzten
Monate. Nach der Stunde dann Ehrlich adieu gesagt und gleich nachhause ins Bett
(ohne das geplante Kino). Hans gestern früh nach Gmunden auf 3 Tage gereist.25
12.II.1924
Gestern war ich durch weitere reduzierte Nahrungsaufnahme noch immer schlecht
in geistiger Form. Nachmittag kamen die Salvendy u. Zirner und es war nicht amü-
santer. Erzählten von Feigl u. Nowak (der erzählt, daß er sich geirrt hat und seinen
Namen mit g am Ende schreibt ; der farbige Lithos „für Amerika“ macht), Lia Rosen,
die so amüsant unanständige Geschichten erzählt etc. etc. Abends kam unerwar-
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien