Seite - 210 - in Erica Tietze-Conrat - Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Bild der Seite - 210 -
Text der Seite - 210 -
210
Tagebuch 1924
merdiener, der Haydn ist sogar unter dem ersten Kammerdiener ranschiert. Und mit
Recht, denn sie waren nur Musikanten. Aber der Goethe war Geheimrat ! Weil er die
kosmische Einstellung gehabt hat. Was der Goethe über das wohltemperierte Klavier
(trotz dem Naturalismus) geschrieben hat, das macht ihm keiner nach
– nicht einmal
der Rameau.“ Er hat 2 Stunden in mich hineingesprochen, bis wir beide tot waren.
Gestern vormittag Generalversammlung d. Gesellsch[aft], daran angeschlossen Aus-
stellung der Neuerwerbungen Moderner Zeichnungen in der Albertina. Sehr gelun-
gen. Abends meine Vorlesung im Klubsaal der Urania, nur vielleicht ein Dutzend
Plätze leer, viele Bekannte, angenehm zu lesen. Ich habe erst Gedichte gelesen (Ich
war lange krank im Spital, Mein Sohn, Sommer in Wien, Sie ist die Jüngste, Sie ha-
ben mich öfter schon gesehen) unter d. Zusammenfassung : Mittelstandsfrau. Dann
die Königin (ohne den Hauptteil der Marktszene) und alle Leute haben nach der
Fortsetzung gefragt. Dann nach einer Pause lyrische Gedichte : Grubhörndl, Wiener
Herbst, Die Last, Möchte dir tausend Dinge erzählen, Abschied.
–42
Ich glaube diesmal starken Kontakt gehabt zu haben. Nachher kamen mir die son-
derbarsten Leute in den höchsten Tönen gratulieren. Z. B. der Brockhausen, dann
sie („sie sind wirklich eine sehr begabte Frau“), Paula Wahrmann, Gertrud Hauser-
Herzog („ich kann nur eines sagen : ich bin froh, daß wir sie haben“) Otto Gottlieb,
Rulli, Felix und viele Leute noch. Ich war nach d. Vorlesung so vertattert, daß ich die
meisten Leute nicht erkannt habe, den andern nichts zu antworten wußte. Dann bei
Lia D’Or, wo Hans u. alle ganz jungen Maler waren, Frau Tischler sang, Liftschitz
(Hauerschüler) musizierte und Lia Rosen nicht vorlas. Ich habe mit dem Hans Wal-
zer getanzt, sehr viel Schnaps getrunken, wenig gesprochen. Um ½ 2 gingen wir mit
Floch weg, waren um ½ 3 zuhause, warmes Bad, kurzer Schlaf ; 7 Uhr wieder im
Betrieb. Und heute zum Souper bei Menczels eingeladen nach d. Konzert, aber erst
gegen 9h !43
4. März
Es kam anders. Hans teleph[oniert] : Karten zu Dalibor, Festvorstellung für Smetana
(100. Geburtstag). Da war ich erst dort, dann bei Menczels (um 10h15), die sich grad
zum Souper placiert hatten. Eine kleine erlesene Tafelfreude. Ich saß zwischen Rety
u. Werfel, dann Fannina, Kandinsky, Frau Menczel, Schnitzler, Alma, Hans, Frau
Kandinsky, Dr. Menczel. Ebenso erlesen das Souper – aber erst um ½ 3 beim Heili-
genstädter Kirchturm ! Heut bin ich schon recht klapprig auf die Füß
…44
5. März
Der Vortrag gestern abends von Kandinsky war über, übervoll. Die erste, theoretische
Hälfte für uns ermüdend und unnötig ; die zweite mit starker persönlicher Anteil-
nahme und Klarheit gesprochen. Ausgezeichnet populär u. darum sicher sehr erfolg-
reich. Nachher ein Kabinett reserviert im Café Museum ; vielleicht 25 Leute ; nach
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien