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Tagebuch 1924
17.III.
Viele Pläne gestern mit Hans gemacht ; wenn die Neue Hofburg-Frage im Kabinett-
rat durchdringt, muß er die Kabinettsfrage stellen : Entweder man räumt ihm jene
Stellung ein, die der Exekutor einer so großen Angelegenheit braucht oder er geht.
Erster warmer Tag. Nachmittag Fannina zum erstenmal nach Jahren dagewesen ; wir
haben ihr die Bilder u. Zeichnungen von G. E. gezeigt, zu denen sie nach sichtba-
ren Widerständen endlich doch sich bekennen mußte. Wir haben viel Spaß gehabt.
Abends die Poppin, die schon ein viel innigeres Verhältnis zur Kunst hat u. nicht
hilflos sich hin- u. her geschmissen fühlt, bis man ihr das Hölzel wirft. Poppin schlug
einen Arbeitsraum, d. h. einen Raum f. Studierende in der Albertina vor, wir änderten
es daheim ab wieder zwischen allgemeiner u. Besuchstage für Studierende zu trennen.
Dann forderte sie eine Kehrung mit Wasser im Universitätsgebäude. Hans versprach
Abhilfe.56
19.III.
Am 17. nachmittag war ich erst mit Hans bei Nebehay eine insgeheim dort weilende
Landschaft von OK anschauen. Ganz neu in der Schweiz Herbst ? 23 gemalt, ein
See mit Bergen herum und Häuschen vorn, ein großes Bild, das ungeheuer groß und
aufregend ist, trotzdem es ganz Faust-auf-den-Tisch-hauen u. ohne Plakatgesteiger
gemalt ist. Dann Eröffnung d. italienischen Seite und Kabinette im Museum u. der
gotischen Skulpturen unten. Furchtbar viel Menschen. Die Bilder z[um] T[eil] in
guten alten Rahmen drinnen ; auf weiß patronisiertem Stoff die Vivarines (Mauerar-
tig), dabei in d. obersten Reihe, ohne sichtbaren Grund ein braunsauciger anonymer
Sizilianer. Manches hat mir ganz gut gefallen, der blaue Lotto in Rokokorahmung
verfehlt. Postamente unten lassen mich gleichgültig, wurden aber „von Kennern“
z. B. Rob[ert] Schmidt-Frankfurt getadelt. Dann bei Floch, wo ich die Bilder für die
Künstlerschau nächste Woche ausgesucht habe. Was er jetzt malt, finde ich sehr lahm
u. totgemalt.
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Gestern früh teleph[onierte] ich Ehrlich, daß er eine Annonce wegen des Ateliers
aufgeben müsse, ferner daß seine Schau Mitte nächster Woche stattfinden soll. Er
ist in scheußlich kollabierter Stimmung (was ich schon von Floch gehört hatte) und
bat mich, ihn im Atelier am Nachmittag heimzusuchen. Es gelang mir, ihm ein we-
nig Mut zu machen. Seine Bilder wirken alle unfertig, einige leider auch zur Hälfte
verquält. Ein guter Anfang die liegende Frau, die aber unbedingt Erdenschwere be-
kommen muß, um nicht sentimental zu werden. Abends waren wir zusammen in der
Kronprinzenloge im Rosenkavalier. Es war eine der schönsten Aufführungen, von
Strauß selbst dirigiert, der (wir konnten es von unsern Sitzen aus gut sehen) zu den
Witzen des Mayr (Ochs) und der Gutheil (Rosenkavalier) in seiner thronenden Ein-
samkeit lachte. Mir war der Abend eine ganz einheitliche Freude ; die wehe und wie-
nerisch hinreißende Stimmung
…58
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien