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Tagebuch 1924
keine Disposition Kunst anzusehen. Die Beteiligung war überhaupt nicht sehr groß.
Mir tut die Geringschätzung d. reichen Leute sehr weh. Frau Steiner hab ich gespro-
chen u. den Felix u. den Stoffel u. weiß Gott wen noch. Am Nachmittag dem Floch
das M[anu]s[kript] der Lithoeinleitung übergeben. Die wundervolle Steinzeichnung,
der Kranke, der zum erstenmal in den Frühling ausgefahren wird – ein ganz zarter
grauer Duft. Dann von Figdor die beiden Portraits, von denen eines sogar sehr sehr
ähnlich ist.66
6.IV.1924
Die langen Schreibpausen sind immer der Beweis einer starken Intensität d. Erlebens.
Am Donnerstag war ich vormittag in der Bergerschen Druckerei, wo Ehrlich seine
Grünewaldzeichn[ung] vor mir noch einmal auf den Stein replizierte. Ich bin sehr
neugierig, es noch einmal zu sehen. Dann über Mama bei Halles, wo am Tag vorher
ein Brand der Fabrik Millionenschaden (ich glaube 600 angedeutet) gemacht hatte.
Ich kam mir mit meinem Tiepolo etwas deplaciert vor. Dann durch die Stadt gegan-
gen, an d. wundervollen Toiletten augschmarotzt (wie soll ich anfangen ?), Besorgun-
gen für meines Vronili Geburtstag. Am Freitag vormittag Modell zu einem neuen
Bild gesessen, d. h. gelegen. Vorher zu einer Radierung, die Ehrlich zur Auflockerung
d. Hand herunterzeichnete. Ich war furchtbar übernächtig da ich in der Nacht von
Hans’ Husten geweckt, viele Stunden wach gelegen, während Hans gleich in schwe-
ren Codeinschlummer fiel. Am Nachmittag teilte mir Hans mit, daß Opernkarten da
wären u. ich ging mit Fritz Lampl zu Carmen. Hätt’s nicht tun sollen. Es war furcht-
bar, schlecht u. langweilig. Wenigstens Bettschwere bekommen
…
Samstag nachmittag (vor der Frappartstunde) Modell zum Bild gesessen u. zu
zwei Zeichnungen. Eine Ersterbende u. eine Dionysische (wie „D’Annunzio“). Es ist
sehr interessant, wie G. E. sich mitten aus dem Malen aufs Zeichnen stürzt, Hände
wäscht, Papier […] und drauf los
– um einen Ausdruck, den er gesehen hat, festhalten
zu können. Heute Vronilis Geburtstag gefeiert worden. Mein Gott wie viel Platz ist
in diesem kleinsten Schwimmhoserl ! So eine Freud mit einem Seifenblasenspiel, das
ihr der Hans, wohladjustiert in einer Schachtel gebracht hat. Es ist eigentlich das
ganze alte Seifenblasen, aber der Hans kennt die Psychologie des Geschenks
– wegen
der Schachtel die große Freude.
8.IV.
Gestern Sezession (W[illi] Jaeckel recht gut, genialisch u. leer, Julius Hüther unnötig,
Kitt gewaltsam u. unnötig, die andern zum Einschlafen) ; dann nach Erledigungen
im Atelier bei G. E., wo wir bei Herstellung einer Radierung, vom allerersten An-
fang bis zur Bereitstellung des 1. Zustandes für den Druck viel Aufregung hatten.
Ich habe gar nicht gewußt, von welchen Zufälligkeiten so etwas abhängt u. hab viel
gelernt. Ich war in einer wunderbar entspannten Stimmung (harmonisch eingewiegt
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien