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Tagebuch 1924
in ernstes Wohlgefühl), aus der noch einmal ein Gedicht wachsen muß ; Ehrlich be-
nützte diese Stimmung, um eine Zeichnung von mir zu machen, die ich für noch
schöner halte als die früheren. Seit noch nicht einer Woche die 4. Zeichnung, dann
eine Steinzeichn[ung], eine Radierung (sehr groß, zu viel geätzt) u. das Bild, das wei-
terwächst. À la bonheur. Heute vormittag mit Frau Steiner shopping – ohne etwas
heimgekommen. Alles zu teuer. Kein Kleid, kein Mantel.67
9.IV.1924
Gestern erst in d. Lithogr[aphischen] Druckerei „Sezession“ (Berger), wo Ehrlich
meine Steinzeichn[nung] vollendet hat, dann über mancherlei Umwege (E.’s Vater
auf der Straße kennengelernt) zu Mama. Wir sprachen – E.’s Vater u. ich – ein paar
herzliche Worte u. gingen dann wieder auseinander. G. E. zu mir : „So weiße Haare
hat mein Vater bekommen.“ Als ob er ihn (mit mir) zum erstenmal angesehen hätte.
Und dann nach einiger Zeit : „Mein Vater trägt immer die schäbigsten Kleider, um
Mitleid zu erregen. Auch früher, wie er sich jedes Jahr 5 neue Anzüge hat machen
lassen, trug er immer die allerschäbigsten.“ „Er ist bei mir nicht auf seine Rechnung
gekommen, ich hab es gar nicht bemerkt.“ tröstete ich ihn. Das sind die Nuancen,
von denen ich lebe. Ich hab’s am Abend dem Hans erzählt. Der war bei OK gewesen,
der ihm sein neues Bild (Selbstportrait mit Frau u. Plakat), an dem er seit Monaten
malt, gezeigt hat u. wundervolle Aquarelle. Hans erzählte, wie OK’s Stimme einen
falschen Ton bekommt, wenn er mit d. Mutter spricht. Wie ein Schulbub, der Angst
hat. Aber der Besuch hat ihm viel Freude gemacht. Dann war Enthüllung d. Kut-
scheragrabes u. abends trafen wir uns, wie gesagt, in Claudels Mittagswende im Aka-
demie Theater. Die Roland fast ausgezeichnet, die Männer alle schlecht. Mich hat d.
Stück wahnsinnig aufgeregt. Hinter uns saß Dr. Wilde mit d. Grafen Khuen u. seiner
Gesellschaft, die sich, wie sonst die meisten Leute, ganz ablehnend verhielt. Auch
noch andre nichtssagende Bekannte im Theater. – Heute hielt Anderl Generalprobe
seines Kleiderbesitzstandes, der sich im wesentlichen aus Stoffels und Heinzelmanns
abgelegten Toiletten zusammensetzt. Ich wurde zur „Schau“ geladen. Er mannekui-
ierte als der 1. in Schwimmhose u. Strohhut
… 68
Mein Bild muß noch trocknen, bevor weitergemalt wird.
12.IV.1924
Donnerstag (10.) hab ich endlich alle meine Toiletteeinkäufepflichten erfüllt u[nd]
z[war] in einem Geschäft d. h. Salon (Münster, Richterg.1), den mir Frau Georg
Halle empfahl. Es ist im großen ganzen so ausgefallen, wie ich es wollte. Ein Mantel,
in dem ich mich behaglich, wie in einem Schlafrock fühle, und ein Kleid, das sehr
angezogen aussieht, ohne daß man es spürt. Dann in d. Staatsgalerie, die neuerwor-
benen Barocksachen angeschaut, die ich alle nicht lokalisieren kann. Eine Landschaft
von Kirchner, die mir zu plakatmäßig in der Empfindung und doch unlogisch in der
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien