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Tagebuch 1924
abenteuern erzählt, wurde aber so lange von hämischen, mißgünstigen Bemerkungen
unterbrochen, bis ich verstimmt aufhörte. Abends bei Lampls, wo (Gaby und Georg)
Ehrlich, eine Schwägerin d. Frau, Pepi Berger, ein christlicher Herr Groag u. zwei an-
dere versammelt waren, von denen nichts weiter zu sagen ist, als daß es Juden waren.
Wir haben die letzte Elektr[ische] versäumt, konnten nur bis zum Gürtel fahren, wo
ich beim Umsteigen in den achten Wagen meine gestrickte Mütze verlor. Ich hoffe,
daß ich sie wiederbekomme, da ich eine goldene Nadel daran stecken hatte
…72
Ich habe wunderbar tief geschlafen. – In der Bibliothek alle Nicht OK’s wegge-
räumt, falls er doch heute abends kommen sollte.
16.IV.
OK ist natürlich nicht gekommen, obwohl er sich’s anscheinend doch vorgenom-
men hatte, da Rapaport um 8 teleph[onierte], ob er ihn abholen kommen solle, ob
er noch da sei. Am Montag habe ich vormittag erst nach der Mütze im Fundamt
vergeblich gefragt, dann mit Erfolg u. furchtbarer Quälerei unsere Pässe zur Ver-
längerung eingereicht, endlich den Hans (u. Uitz, Kiesler etc.) bei George Grosz
getroffen. Die Aquarelle sind wirklich ausgezeichnet. Mittag bei der Mama mit
Ilse (u. dem endlos ästhetisierenden Kanitz) beisammen, dann in der Druckerei, wo
Ehrlich d. Stein ausbesserte. Ob der Druck nun auch das ganze neu eingezeichnete
Detail herausbringen wird ? Ehrlich fürchtet, daß wieder viel verloren geht. Dann
bei Zirner meinen Hut probieren, der aber natürlich nicht paßte (viel zu klein war)
u. wieder ganz demoliert werden mußte. Endlich bei Steiners mit Hans zusammen
getroffen. Dieser war bei Frau Dr. Schwarzwald gewesen, die ihn durchaus zum
Abrasieren seines Schnurrbartes überreden wollte u. ihm als Belohnung eine Mar-
zipanschachtel für die Kinder mitgab. Gestern hatte Ehrl[ich] wieder an dem Bild
weitermachen sollen, er hatte aber einen frühlingsmäßigen Unlusttag u. konnte sich
nicht dazu bringen. Er wollte mich zu einem Ausflug nach Schönbrunn bereden,
wo er die Tiere zeichnen wollte. Ich ließ ihn aber allein. Ich habe ihm über sein
nicht Durchhalten während der Arbeit Worte gesagt, die mir heute noch weh tun.
Vor allem wenn ich an den Ton seiner Stimme denke, als er sich zu verteidigen
– zu
erklären suchte.
–
–73
Ich holte die Pässe ab u. brachte sie dem Hans. Ging dann zur Funke, der ich
eine Portraitsitzung versprochen hatte. Sie machte 2 Zeichnungen mit Graphitstift
(ohne Radieren), von denen die erste halbwegs ging. Es war mir lästig, meinen Kopf
in der üblichen ornamentalen Manier ihrer Blätter aufgerollt zu sehen. Ich glaube
nicht, daß ich mich noch einmal entschließen kann, hinzugehen, da sie während
der Sitzung immerfort spricht u. d. Modell sprechen machen will. Das ist mir ener-
vierend gewesen. Dann bei Ilse lebewohl sagen u. die Burgl abholen ; mit dieser u.
Otto Gottlieb, der furchtbar gealtert aussieht, durch die Stadt (die furchtbare OK
Selbstportr[ät] lithogr[aphie], die wie ein Holzschnitt aussieht, angeschaut, u. die
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien