Seite - 226 - in Erica Tietze-Conrat - Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Bild der Seite - 226 -
Text der Seite - 226 -
226
Tagebuch 1924
Auslage, die mit Hartas, Ehrlichs, Laskes etc. gedrängt ist) nach hause, sehr sehr
müde. Das Leben macht mir wenig Freude. Ich bin der Wehmut übervoll. Und wenn
es von mir wegfließen würde, aus den warmen Adern meiner Hände, so wär es mir
ein leichtes liebes Abschiednehmen. Man kann so gut im Frühling sterben.
–74
Abends war die Frau Pollak-Prag da, sprach endlos, jüdelte endlos.
18.IV.1924
Mittwoch abends war Alf da, der bis Sonntag bleibt, da seine Frau Ferien hat u. nach
Eggenburg gefahren ist. Auch Gerhart Frankl, der sich in seinen humoristischen Er-
zählungen wiederholte, was vielleicht für seine große Jugend charakterist[isch] ist. Ich
gab ihm Empfehlungen für Holland, wohin er Ende nächster Woche reisen soll. Wir
knüpften mit ihm Verhandlungen an, ob er vielleicht sein Atelier während seiner
Abwesenheit G. E. überlassen könnte. Gestern war ich vormittag im Bett, nach Tisch
nur bei Halles Kurs. Es ist ein Feuilleton von Frau Pollak-Prag gegen die Neuerwer-
bungen u. Hans erschienen (der Fachreferent, der den groben Ulk Nolde „gutheißt“),
dem sich am nächsten Tage die alte Gilde d. Künstler von Angeli bis Schönthal ener-
gisch anschloß. Großer Wirbel bei Haberditzl, Glück etc., Hans nimmt es eher ver-
gnügt auf ! Abends war der Maler Eberz da, recht sympatisch, sonderbarer Kopf, eine
Kombination von geistigem Übergewicht u. Kleinlichkeit. Heut früh brachte ich G.
E. mit Gerhart Frankl telephonisch zusammen, erfuhr bei dieser Gelegenheit, daß die
Bergner seit Montag in Wien ist. Ich würde sie gerne spielen sehen, hab’ aber keinen
übrigen Heller : Ich bin den ganzen Tag im Bett u. denke an meinem Jonathan he-
rum. Jetzt könnt ich schreiben. Vom Neuen Mercur die Legende u. 3 eingeschickte
Gedichte zurückbekommen. (Sommer in Wien, u. noch 2, die ich mir nicht gemerkt
habe). Prybram stellt Gehaltserhöh[ung] in Aussicht.75
20.IV. Ostersonntag
Ich schlendre frühlingsschwer durch die Straßen. Gestern Auferstehungsschinken
mit den Kindern gegessen, Ostereier gemalt. Feuilleton Sam[m]l[ung] Lanckoronski
angefangen, heute vollendet. Eiersuchen, Anderl sogar auf dem Baum hoch oben 2
gefunden. Ich lösch mich aus, so gut ich kann. Anderl hat mich gezeichnet ; „ich hab
erst die Augen zu dunkel gehabt, da hab ich die Haare stärker gezeichnet, da sind die
Augen dann ganz hell geworden.“ Neben dem Kopf am freien Papierrand hat er will-
kürlich scheinende Striche hingesetzt. Ich frage ihn, warum er es getan hat. „Wegen
des Mundes.“ Ich darauf : „Das versteh ich nicht, erklär mir das.“ Anderl : „Weil sonst
der Mund zu stark wirkt, zu sehr auffällt. Schau her, wenn das leer ist (er deckt die
Striche mit der Hand ab), wie der Mund auffällt !“76
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien