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Tagebuch 1924
Am 7. war ich tagsüber zuhause, abends nach vielen Rennerein u. Telephoniere-
reien, um die Loge voll zu kriegen, bei Herodes u. Marianne. Ein unmögliches Stück ;
dieses modern komplizierte Problem – und die altmodische Diktion. Es ist wie von
einem Gymnasialprofessor der klassischen Philologie zusammen mit seiner ihn hin-
tergehenden Gattin hergestellt. Mit mir waren Gaby u. G. E., Pepi Berger – alle
gleich unzufrieden. E[hrlich] hat mich nachhaus begleitet und sich sehr über meine
Kühlheit der Bergner gegenüber gekränkt. Er ist empört wegen der Behandlung, die
er von den Hagenbündlern her erfahren hat ; sie haben ihm 2 Bilder (mein Portrait
u. d. Payerbacher Landschaft) abgelehnt, „um ein Ex-
empel zu statuieren.“ So hat es ihm Tischler, der bei
der Jury war, erzählt. Gestern war ich vormittag bei
Dr. Kurth, auch drinnen bei dem Kranken. Er ver-
wechselt Passivum und aktiv, sagt z. B. „ich freue mich,
daß ich bei ihnen eindringen konnte“, sprach sehr
wenig, aber schien mit viel Freude der Unterhaltung
der andern zu folgen. Mir war es doch sehr traurig,
wie die Frau so darunter leidet. Die Tochter, äußer-
lich und in der Kunst der Rede ein richtiger Untertan,
sagte mir : „da haben wir uns was schönes eingebrockt.
Jetzt dauert die Sache schon über 3 Monate.“
–
Ich ging dichtend durch die Stadt und Stoffel
sprach mich an u. ging auch ein bisserl mit mir u. riß
mich heraus. Mittag bei Mama, wo Anderl u. Burgel
sehr manierlich gerade beim Essen saßen. Dann Hal-
lekurs
– Halle wollte noch eine der für Frau Menczel
ausgewählten Zeichnungen, die ich ihm für 500.000
K[ronen] ruhigen Gewissens verkaufte, u. d. Geld
dem E[hrlich] in die Lade gab. Nachher brachten mir Frl. Zirner u. Salvendy meinen
Hut, der mir paßt, aber nicht steht – und Salvendy jammerte sich auch über d. Ha-
genbund aus, war derartig größenwahnsinnig, daß es furchtbar peinlich war. Nach
dem Nachtmahl wollte ich dem Hans endlich jenes vor Wochen schon beendigte
Saulkapitel vorlesen, aber mitten hinein kam der junge Hainisch u. es wurde wieder
nichts daraus. Er ist voll feinem Schuldgefühl, daß seine Mutter von Leitmayer, sein
Vater von Pick-Morino gemalt wurden
– „schließlich übernimmt der Porträtierte für
den Porträtierenden eine Art Verantwortung !“ Ich bestärkte ihn sehr darin (da es
mir Hans mit denselben Worten gesagt hatte) und schloß damit : „Sie müssen sich
direkt vom OK malen lassen um die künstlerische Familienehre zu retten.“ Heut
früh war ich erst im Österr[eichischen] Mus[eum] bei der Eröffnung einer Architek-
turausstellung, wo ich vor allem Hans treffen wollte. Ich ging dann mit ihm in die
Akademie. Am Weg erzählte er mir die lästigsten u. symptomatisch übelsten Bureau-
Abb. 50 : Georg Ehrlich, Elisabeth Bergner,
Lithografie, 1922.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien