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Tagebuch 1924
geschieht.) Ich kann dir leider nicht herausgeben.“ Ich : „Nein, Stoffel, fang an mit
Rührung.“ Er : „Nachher. – Du sagtest gestern, ich soll mir Sandalen kaufen. Könnt
ich das Geld von dir bekommen ?“ (Es geschieht). Stoffel schüttelt dem Hans die
Hand u. verläßt das Zimmer. Am Nachmittag hab ich G. E. auf der Straße getroffen,
er lief mir nach u. sprach mich an
– ich bin so erschrocken, daß mir noch lange nach-
her die Beine gezittert haben. Er war sehr verstimmt
– hat die üblichen Zahnweh, die
er vor jeder Reise bekommt. Stunde bei Frappart – auf Wiedersehen nach Pfings-
ten. Dann nachhause. Burgl ist schon wieder ganz gesund, morgen darf sie aufstehen.
Sie erzählt mir : „Das Christkind, gell ja*, hat sich kreuzigen lassen, damit die guten
Leute in den Himmel kommen ? Das hat uns das Religionsfräulein gesagt ; die erzählt
immer so lustige Geschichten.“ Dann erzählt sie vom Besuch des Arztes : „Die Bela-
gerung im Hals ist schon weg
…“
Mit dem Stoffel im Mondschein spazieren gegangen u. Gespräche über Planeten-
entdeckungen (ein wenig schmerzhaft) über mich ergehen lassen. Ein lieber Bub
…
19.V.
Gestern vormittag war d. Meringerin da u. erzählte mir von Börsen- u. Herzensge-
schäften. Nachmittag während Stoffels Fest (Minkas Geburtstag) tobte, mit Gaby
Ehrlich einen 5stündigen Marsch ohne Pause gemacht. Kobenzl, Jägerwiesen, Sieve-
ring, Himmel, Grinzing. Herrliches Wetter. Ganz klar u. nicht zu heiß. Nach d. Nacht-
mahl gleich schlafen gegangen. Bis 5h tief u. gut geschlafen. Heute „Biblioth[ek]-Post“
erledigt, den Aufsatz über d. „Kunststreit“ geschrieben, Tintoretto.95
21.V.
Gestern ist der von Hans abgefaßte Protest erschienen (in allen Zeitungen).
Gestern war ich den ganzen Tag zuhaus. Hab vormittag über d. „Kunststreit“ für
die Allgemeine geschrieben. Nachmittag den Verdiroman von Werfel gelesen (Vor-
bereitung für Venedig). Dazwischen aus der aus Stoffels Zimmer heruntergeholten
Kassette in Hansens und meinen ganz alten Briefen. Das ist mir alles noch ganz nah,
sogar in der Diktion
–
–
– und liegt doch schon 20 Jahre zurück. Und liegt ein Leben
mit Freuden und Enttäuschungen und liegt die Kinder zurück, die doch immer u.
immer wichtiger werden. G. E. teleph[oniert] mir in d. Früh, daß er Schwierigkeiten
mit d. Visum habe, da man keine Maler nach Italien hereinlassen wolle.96
11. Juni 1924
Am 22. Mai hab ich Georg Ehrlich am Südbahnhof um ½ 10 früh getroffen und wir
sind in einem Zuge nach Gemona gereist. Um Mitternacht angekommen. Am Frei-
tag vormittag auf dem Kastell in Gemona, unter uns der offene Hof der Irrenanstalt.
* nicht wahr ?
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien