Seite - 252 - in Erica Tietze-Conrat - Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Bild der Seite - 252 -
Text der Seite - 252 -
252
Tagebuch 1924
meiner Abreise in einer Lade wiedergefunden. Die
„Mumien“ von Venzone sind drinnen – ich freu mich
sehr darüber. Ich hab ihm viel vom allgemeinen […]
in Wien erzählt, er scheint schon einiges davon ge-
merkt zu haben. Kam ganz ohne Geld hier an, ich
borgte ihm eine halbe Million Kronen. Er war mit
Anderls Zeichnungen sehr zufrieden, sagt er müsse
modellieren. Nach Tisch telephonierte er mich an : er
wolle Kinder unterrichten, nur sehen lehren, sie sollen
keine großartigen zeichnerischen Leistungen hervor-
bringen. Ob man da 100 oder 50 000 K[ronen] pro
Stunde bekommen könne. Ich soll ihm Schüler ver-
schaffen. Er war mit Ehrenstein einen Tag in Verona
(Parsifal in d. Arena) u. ganz begeistert von San Zeno
u. vom Can[al] Grande. Das ist Kunst. Alles spätere
hat schon keine Berechtigung mehr. Viel Wahres,
aber doch nur persönlich Wahres.113
15.VIII.
Gestern hab ich ein wenig die Französ[ische] Graph[ik] zu schreiben angefangen, bei
geschlossenem Fenster, da die Kinder u. Gastkinder bei der Höhle, die sie sich ge-
baut haben, Indianer spielten. Gegen abend berief mich Ehrlich telephon[isch] in die
Wohnung u. zeigte mir die Graphik, die er gemacht hat. Die Aquarelle (sicher 2 Dut-
zend) mußte ich fürs Tageslicht verschieben. Es sind unendlich viel Zeichnungen ;
Skizzen aus einem Zirkus u. von der Straße ; Porträts, vor allem der Gerda Müller ;
Kompositionsentwürfe, u. a. Thema Totentanz (Mumien aus Venzone) ; eine Kompo-
sition eines (blinden, taubstummen) Knaben der einen Hund im Arm hält, angeregt
durch eine Ansichtskarte (Wohltätigkeitsbrief), die ich ihm einmal schickte. Mir hat
vor allem eine Kompositionsskizze (Totentanz) ausgezeichnet gefallen.
17.VIII.
Gestern früh war ich beim Floch im Atelier ; er wollte mir seine neuen Bilder zei-
gen. Ganz gut gefallen, es geht immer gradlinig weiter, aber nie etwas erschöpfen-
des ; er blutet nicht, darum blutet es nicht u. – darum blute ich nicht. Am Abend
kam Georg – Stoffel war in Aida (zum erstenmal in einer Oper) auf d. Festtheater
der Hohen Warte ; wir gingen zu dritt, nach dem Nachtmahl mit dem aufgehenden
Mond – nachher hab ich Georg zur Elektr[ischen] begleitet. Er ist jetzt ganz allein
in der Wohnung, da der weibliche Teil der Familie am Land ist. Er malt im Kinder-
zimmer. Als ich mit ihm allein war, sagte ich ihm, wie viel stärker mein Interesse auf
seine Malerei jetzt gerichtet ist, da d. Meisterschaft des Zeichnens, die er erreicht hat,
Abb. 58 : San Zeno Maggiore (11.–12. Jh.), Verona.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien