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Tagebuch 1924
Vereinigungen, Floch u. vielleicht ein bisserl Tischler ausgenommen, die Arbeiten
von Ehrlich wirken ausgezeichnet (Am Eröffnungstag haben 20 Leute den Hans
gefragt, ob die Impekoven die Vroni wäre. Er sagte „nein, aber die Lithogr[aphie] ist
meine Frau.“) Der Vortrag vom Hans (Expressionismus) war der menschlich stärkste
Eindruck, den man erleben kann. Jedes Wort wurde vor dem Zuschauer erst geboren,
rang sich heraus, das Temperament, die Selbstverzehrung war überwältigend – da-
bei wundervolle Witze, umwerfend ein Ereignis. Der Beifall war auch ungeheuer.
Man will ihn wiederholen lassen, aber es kommt nicht dazu, weil der einzige Tag, der
in Betracht kommt, Dienstag ist, u. am Dienstag d. Eröffnung d. Theaterausstellung
vom Kiesler
…128
Wir sind mit Gustav Schönberg per Auto nachhaus u. haben zuhaus Tee getrun-
ken ; ich mußte ein Schlafmittel nehmen, weil ich vom Vortrag so aufgeregt war.
Donnerstag war ausschließlich Familientag – am Abend sogar noch Felix u. Hertha,
Abschiednehmen. Lili hat eine Litho von mir für das Breslauer Museum gekauft ! ! !
Solche Dinge kommen vor. Ich glaube, sie imponiert sich riesig. Freitag hab ich ein
paar warme Stunden gehabt. Vorher fleißig gearbeitet, nachher bei Lampls, Propa-
ganda für die Internationale. Letzten 37ger versäumt, zum großenteil zu fuß (allein)
nachhaus. Mondschein. Nacherlebt, nachempfunden. Ich bin noch immer ganz jung.
Kommt das vom Dichten oder ist das umgekehrt ?
–
21.IX.1924
Gestern vormittag mit Gaby auf dem Berg ; strahlender Sonnentag. Nach Tisch
bei Jaffé, die Drucke angeschaut, abends Don Juan von Gluck und Die Ruinen von
Athen von Beethoven. Ilse mit Ivo angekommen. Der Beethoven war wunderbar in
der Linie und Andacht. Heute Majas Bräutigam mit Maja abgedampft u. Lutz mit
Heinz angekommen. Alle vormittag zu besuch hiergewesen. Hans wiederholt seinen
Vortrag in der Sezession am Dienstag. Ich hab schon mehrere teleph[onische] Gesprä-
che daraufhin geführt. Die Theaterausstellungseröffnung ist auf Mittwoch verscho-
ben, wir reisen erst Donnerstag.129
1. Oktober
Und wir sind erst Donnerstag früh fortgereist. In einem bis Lienz, wo wir gegen 10
Uhr ankamen, in der Post ein Bier tranken u. zu Bett gingen. Frühstück auf sonniger
Terrasse. Weiterfahrt bis Bozen, wo wir den zweistündigen Aufenthalt gut ausnützen
(Mittag beim Greifen, alter Erinnerungen voll). Aus dem Gebirge in den Süden hi-
naus, während d. Wetter sich – trübte. Fast Mitternacht Verona, wo wir Accademia
in einem Zimmer so groß wie unser Haus übernachteten. Zanzaren. Hans weckte
mich, weil ich mich immerfort kratzte. Ich kroch dann ganz unters Leintuch u. hörte
ihr belagerndes Geflöte durch. Bei herrlichem Wetter Morgenspaziergang durch
die Stadt, S. Zeno, das Bronzetor, Fassade ! Innendurchblick – Mantegna noch im
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien