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Tagebuch 1924
machten. Der invalide Concierge begann seine Erklärung bei einem Loch u. da andre
Leute immer nachkamen, begann er sie immer wieder. Eier gegessen u. Bananen, die
Reste in Schießscharten gelegt, durch den Ruinenkranz schöne Durchblicke über die
Bocciaspielende Bevölkerung lange genossen. (Nur Männer als Zuschauer, natürli-
ches Stadion). Fußwanderung nach Grau-du-Roi, in die sinkende Sonne, ans Meer.
Zum erstenmal ! Draußen geblieben bis spät abends, fast alle Zugänge zur Bahn
überschwemmt.133
Am 6. (Montag) in Nîmes im Lapidaire, dann schöne Gartenanlage (18. Jh.) mit
Fontaines über röm[ischen] Fundamenten („une broderie Louis XV. sur un Cane-
vas Romain“), zuhöchst Tour Magne, Zugang freie Wendeltreppe, daß sich mir der
Magen umgedreht hat. Am Nachmittag Ausflug nach Pont du Gard, herrlicher Spa-
ziergang von 3 klm zu dem allergewaltigsten Aquaedukt, das dort in 3 Bogengän-
gen durch eine Schlucht führt. Ganz zuhöchst ein paar Leute drübergegangen, u.
man verstand jedes Wort, das sie sprachen. Blauer Himmel u. rotgelber Stein. Abend
nach Montpellier, dessen schönes Museum wir am 7. besichtigten. Sammlungen
zweier Mäcenen, von denen der eine Bruyas 100 x von den verschiedensten Leuten
gemalt ist (u. a. bekanntlich Courbet). Am Nachmittag Reise nach Carcassone Zug
überschlagen in […], unserem entferntesten Punkt, ganz nah schon der spanischen
Grenze, die Leute wirken schon ganz unfranzösisch, die Aufschriften gelegentlich
spanisch, man hört viel spanisch sprechen. Am nächsten Morgen Spaziergang in d.
„Cité“, die noch eine Steigerung von Aiguesmorte ist. Mit famosen Durchblicken, im
ganzen aber zu restauriert. In d. Kirche ein völlig unrestaurierter Sakristan aus d. Zeit
d. Gründung, der nur mehr piepsen konnte. Zwei Engländerinnen ? Mutter u. Toch-
ter, sahen sich d. Sehenswürdigkeiten an, während der Vater jedesmal draußen in d.
Sonne seine Pfeife rauchte. Am Nachmittag Reise Marseille.134
10.X.
Gestern war d. erste Tag in Marseille. Früh Gänge wegen ital[ienischem] Visum u.
Schiff nach Genua, das aber nicht geht, sodaß wir mit d. Bahn fahren werden. Hafen,
[…], mit d. Accenseur nach Notre Dame de la Garde, Kirche mit Zugbrücke !, in d.
Eingang Buden, in denen weiße Nonnen Gebrauchsdevotionalien verkauften. Votiv-
tafeln in Menge, darunter eine f. d. Madonne pour la réuscite de l’examen. Nachmit-
tag Museum, interessant. Pugetsammlung (auch Abgüsse u. Photos) u. Spazierfahrt
„auf d. Spuren des Grafen Monte Christo“ nach d. Chatéau d’If. Kleines Motorboot 2
Leute seekrank, ich nicht,
– ich noch nicht
…135
Abends Theater, Opérette américaine „Le beau voyage“, das aller stupideste, das es
gibt, wir haben uns königlich amüsiert. Heute Ausflug nach Aix, nach langer Pause
(S. Trophime in Arles) wieder ein „kunsthistorisch“ genußreicher Tag. Im Museum
hängt Rembrandts Selbstbildnis zum Weinen ! Mitten drunter in einer gepflasterten
Wand. Die Franzosen übrigens auch nicht besser. Schöner Ingres (Portrait Granet).
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien