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Tagebuch 1925
1. Jänner 1925
Das war die längste Pause im Tagebuchschreiben.
Äußere Veranlassung : es fehlte mir ein passender
Block. Innere Ursache : ich hab keine Gedichte ge-
macht. Allgemeinstimmung : Geldverdienen, Hetzen,
Vorbereitung für die Kurse, Weihnachten, Katalog der
Diapositive des Volksbildungsamtes, Kunstgeschichte
(Tizianzeichnungen, Mantegna u. Angelico). Han-
sens definitiver Entschluß seine jetzige Stellung im
Ministerium aufzugeben ; er spricht mit Prüger dar-
über u. wartet jetzt, welchen Vorschlag für eine andre
Verwendung ihm dieser machen wird. Unser Jahres-
budget beträgt c. 150 Millionen, von denen der Ge-
halt 77 beträgt. Es gehört schon ein hübsches Stück
Mut zum Leben
…1
Weihnachten war ungeheuer üppig, die Kinder
sehr zufrieden und wir auch. Hans hat mir u. a. ge-
fütterte Handschuh geschenkt und ein kleines Sei-
dentascherl, das ich sehr notwendig brauchte ; von
Steiners bekam ich einen köstlichen Shawl u. von
Frau Berl ein weißes Fransentuch. Von Floch eine Landschaft, die in unserm Schlaf-
zimmer hängt, und von G. E. einen Mädchenkopf, ganz zart und innig gemalt, dann
die schöne Zeichnung von der Asta Nielsen, die ich einmal kaufen wollte u. die er
mir damals abgeschlagen hatte und eine Zeichnung vom Anderl, in die er sich sicher
noch hineinwachsen wird
– inzwischen sieht er viel zu alt darauf aus. Von Halles die
übliche Gans, vom lieben alten Figdor eine Schokoladenschatulle mit angehängtem
Schlüssel – damit ich meine Briefe hineinsperren kann – und eine Alt-Wiener Gra-
tulationskarte zum Aufstellen mit einem Vers auf Raimunds Aschenmann und die
„Zufriedenheit“. Kaschnitz ist aus Rom angekommen u. wir sind sehr neugierig, ob
er die 14 Urlaubstage benützt, um sich mit Eva Steiner zu verloben. Gaby Ehrlich ist
noch immer nicht von ihrem vielwöchigen Ausflug nach Berlin heim gekehrt, von
dem sie seit dem 27. täglich erwartet wird. Die Kinder sind lieb und gesund, ver-
bringen ihre Tage auf Kinderjause, gaben selbst eine, die glaub ich, die übliche Lan-
geweile aufwies, vielleicht sogar noch übertraf. Fritz Lampl sagt mir unlängst : „Mit
dem neuen Jahr beginnt auch schon die Hoffnung auf das Frühjahr, dann ist gar nicht
mehr Winter …“ Mein Gott, noch so viele Monate muß man von der Hoffnung al-
lein warm haben. Das macht nichts. Jeder Tag hat einen Kuß aufs Herz. Das tut wohl
und weh. Aber ich lebe.2 Abb. 63 : Georg Ehrlich, Die Schauspielerin Asta
Nielsen, 1925.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien