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Tagebuch 1925
2. Jänner
Im Bett. In der Früh war Georg auf einen Sprung da, hat sich sein Geld abgeholt.
Die Anzahl d. Teilnehmer ist bisher nicht sehr groß, hoffentlich noch nicht voll-
zählig. Inzwischen hält er bei 1,950.000 monatlich. Ein Brief von Frau Steiner mit
Bilderln und einer Mitteilung durch die Blume, daß der Weihnachtsengel aus Evchen
u. Guido ein Brautpaar gemacht habe. Inzwischen „Reservat“. Abends war dann Ka-
schnitz da, da er aber nichts davon sagte, so schwiegen wir auch darüber, hatten aber
sonst viel Spaß. Abends kam noch ein Telegramm aus Poltenberg, daß Theresens
Mutter schwer erkrankt sei, Therese fuhr
–3
3. Jänner 1925
– dann heute früh weg und ich hab ein bisserl Angst, wie wir ohne sie auskommen
werden. Im Sommer, wenn’s keine Öfen, keine Schuhe und keine Schule gibt, ist [es]
dann viel einfacher. Ich arbeite „Kunstgeschichtliches“ und lese die Mahlerbriefe.
Heut nachmittag ist Tanzstunde für die Kleinen (2 u. 3) und den Großen (1). Dieser
nach einer erfolgreichen Auseinandersetzung mit einem Kragenknopf sehr selbstän-
dig aus dem Hause, die Kleinen auch fast ohne Nachhilfe. Mehr moralischer Antrieb ;
Eil dich, trink die Milch u. s. f.4
4. Jänner
Anderl ist bei Ino Grafe, dem Sohn des Kubinsammlers u. Stoffel geht aufs gerate
Wohl, die „Tante Lili“ abholen, die heute gerüchteweise ankommen soll. Am Vor-
mittag waren die Kinder mit Hans spazieren, sonniges frisches Wetter. Bei mir waren
daweil Kaschnitz (nahm Abschied) und dann Alf, dessen Frau zu seinem Leidwesen
kein Kind bekommt, sondern nur so halt dick wird. Ich bin ganz kunsthistorisch ver-
bohrt ; woher hat Dürer die großfigurigen Vordergrundkompositionen, z. B. Rosen-
kranzfest oder Himmelfahrt vom Hellerschen Altar ? 1506 und 1509 schon ! Bilder
vor der Assunta, vor Correggio. Das muß von Florenz herkommen
…5
Therese bleibt noch unbegrenzt, die Mutter löscht aus (Altersschwäche) – aber
wann ? Wenig Ruhe dadurch. Meine Kurse haben angefangen. Hans hört von Frl.
Bondi folgende Ehrlichiade : Er lädt sie (teleph[onisch]) am Silvestertag zu dem Mas-
kenfest bei Lampls ein. Sie darauf : darüber reden wir noch – vielleicht kommen sie
heute bei uns vorüber. Ehrlich : Heute
– kann ich nicht ;
– heut muß ich mich umzie-
hen.
–
Ich gehe die Hohe Warte hinunter. Bei der Planke steht ein kleines Buberl aus
d. Taferlklasse*, Schultasche am Rücken u. buchstabiert ein obszönes Wort, das eine
schreibkundige Hand mit kalligraphischem Gefühl dort hingekreidet. Das Buberl
spricht mit der rauhen fremden Stimme, die die sechsjährigen beim Buchstabieren
* erste Klasse Grundschule
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien