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Tagebuch 1925
haupt etwas gedrückt, weil Anderl sich unwohl fühlte. Es ist aber heut wieder gut.
Stoffel hat seinen ersten Ball nicht voll genossen, weil er bei der Damenwahl wieder
einmal durchfiel
– und diejenige, auf die er gerechnet hatte, war nicht gekommen. Sie
heißt Wilhelmine Schreiber u. „ist so mager, man fühlt alle Knochen.“ Die andern
sind alle klein u. punkert*, er kann nicht mit ihnen tanzen. Frau Bloch-Bauer ist an
Gehirngrippe im Verlauf von 3 Tagen gestorben. Kam fiebernd nachhaus, legte sich
zu Bett, wurde bewußtlos und kam auch nicht mehr zu sich. Und dieser Tage hat
sich auch meine ehemalige Schülerin Steffi Winternitz (verheiratete Seemann) unter
ganz besonders tragischen Umständen erschossen.14
9.II.
Am Samstag (7.) großer Schreck : Anderl stürzte, schlug sich an den Tramwayschie-
nen ein Eck Vorderzahn, beschädigte die 2 Nachbarzähne. Das Unglück ist nicht so
groß ; man sieht es kaum, aber er trug entschieden einen kleinen Schock davon. Als
ihn der Zahnarzt (gleich am Nachmittag) lapidisierte (?), wurde er ohnmächtig. Die-
ses Memento, daß auch der blühende Zehnjährige schon ins Grab lebt, erschütterte
mich sehr
…
Gestern wurde Gustav Glück auf Tod und Leben operiert (Magengeschwür, die
alte Geschichte). Wenn er’s bis morgen durchhält, so ist gute Hoffnung vorhanden,
daß er aufkommt. Gestern war Georg Halle da, sich die neuen Bilder von G. E. an-
schauen ; sie haben einen ganz starken Eindruck auf ihn gemacht. Er blieb dann noch
bei mir und erzählte mir von seiner Frau, von sich – und natürlich auch von der Ge-
genspielerin Fannina. Die ist schon eine Weile aus Rußland zurück, ich hab sie aber
noch nicht gesehen.15
13.II.25
Gestern war der letzte der 3 Vorträge (der über „Kunstkritik“) vom Hans. Es war
wunderbar aufgebaut, glänzend gesprochen. Sehr lustig. Großer Applaus. Der arme
Buschbeck, dessen Bub am Vormittag zum zweitenmal operiert wurde, hat lachend
mitstenographiert. Wir sind direkt nachhaus gefahren, obwohl die verschiedensten
Konventikel uns ins Café entführen wollten
…16
Es sind jetzt ganz wundervolle Tage, daß man frühlingsmüd herum schwankt wie
sonst im Mai. Vorgestern im Hauerkonzert sind wir früher weggegangen, so müd
war ich
– Die Musik aber ist wie später Picasso, rein, griechisch, beruhigend. Wieder
ein Vortrag – der 6. – über Correggio fertig. Präparation für den Hallekurs macht
Mühe. Dazwischen Elektrische fahren, dummer Weise erster Wagon, Bekannte ; vor
mir steht [die] Schwägerin von Walter Eidlitz, meine Übernachbarin ist Frau Fürth,
die auch darauf wartet, mich anzusprechen.
–17
* untersetzt
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien