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Tagebuch 1925
Der Fluß, der in tief eingeschnittenem Bett, wie ein Gebirgsbach so wild die Stadt
teilt
…46
Im Dom wurde gerade bei der Fonte de Callisto getauft. Das Kind war schon über
das bei uns übliche Alter weit hinaus und hatte dementsprechend einen stärker reagie-
renden Teufel gegen d. hl. Handlung. Es brüllte wie ein Schwein, das gestochen wird.
Eine große dicke Dame in Schwarz
– wohl d. Großmutter oder die Levatrice klatschte
immerfort in d. Hände, um es zu erheitern, der Geistliche u. die andern 5–6 Perso-
nen trachteten durch lautes Beten den Widersacher zu überschreien. Die Gruppe war
ganz eng um die lärmende Hauptperson geschlossen ; den Eindruck einer Anbetung
bei Nacht im Stile Correggios, besser noch Bassanos oder Sandrart brachte vollends
ein langer Lackel mit einem grinsenden Faungesicht hervor, der mit beiden Händen
eine dicke hohe brennende Kerze hielt. Die Kerze war schließlich die Rettung. Als der
Höhepunkt der Verzweiflung bei d. kalten Bad aus d. Taufbrunnen erreicht war, wurde
das Kind bei einer Kopfwendung oder Drehung d. Paten plötzlich der Kerze gewahr
und im Augenblick riß das Geschrei ab
– und d. Kind machte AAH.
– Es staunte in d.
Licht der Kirche, das ihm aufgezwungen war. Der entzückend schöne Brunnen war die
kunsthistorische Entschuldigung, daß ich so lange bei diesem Taufakt zuschaute.
–47
Im Tempietto ist seit dem Weggang des Kaschnitz nichts geändert ; die scavi mit
all der zugehörigen Schlamperei sind unbegreiflicher Weise nicht zugemacht wor-
den. Die Custodin, die uns den Tempietto aufsperrte, sagte daß die Tedeschi hier
nach Schätzen gegraben haben. Am Nachmittag gingen wir zu den Grafen Claricini
nach Bottenicco ; es war nur der weibliche Teil der Familie da, wir tranken Tee und
schwatzten von alten und neuen Zeiten. Jene bestritt die Mutter, die den Elisabeth-
orden I. Cl. besitzt und sich ein nichtkaiserliches Wien gar nicht ausdenken mag.
Diese aber die viel aktiveren Töchter
… Unter anderm erzählten sie, daß sie vor etwa
14 Tagen aus Rom von Amelung eine Karte bekommen hätten, daß es ihm gelungen
sei, Kaschnitz als 1. Assistenten anzustellen und daß dieser sich also jetzt dauernd in
Rom ansiedeln u. im Winter heiraten werde
…48
Der Wagen brachte uns am Abend zur Station, wir haben uns diese Nachricht
nach allen möglichen Seiten hin u. her überlegt
…
In d. Nacht gab’s Gelsen. Am Morgen entschlossen wir uns ganz plötzlich abzu-
reisen. Wir überschlugen in Conegliano einen Zug und sahen uns den graziösen Ort
mit seinem nachgedunkelten Cima an. Das schönste aber bleibt doch die Silhouette
der Stadt, die man allerdings, indem man sie durchschreitet fahren lassen muß. In
Montebelluna hatten wir wieder langen Aufenthalt ; der Hans blieb bei d. Koffern u.
las ein Buch seiner gut assortierten Reisebibliothek, ich ging in den Ort (aber nicht
weit) u. versuchte einen Esel, ein Pferd etc. zu zeichnen. Da ich aber dabei stehen
mußte, u. die Ludern nicht stehen wollten, war d. Resultat unerfreulich.49
Am Nachmittag kamen wir hier in Feltre an, das in einem breiten Tal ähnlich wie
Lofer liegt. Wir durchwanderten die Stadt, die sich wie Gemona, Conegliano etc.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien