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Tagebuch 1925
Sterben muß jeder
allein.
Dann fuhren wir nach Belluno, das etwa wie ein befestigtes italienisches Aussee in
seiner weiten Berglandschaft liegt. Die Fahrt Piave-aufwärts ist viel lieblicher als der
Oberlauf des Tagliamento. Im Museo ein paar venezianische späte Bronzen und Bil-
der 10. Ranges. Eine Montagna-Madonna, die die Hand so hält, wie Tizians Kir-
schenmadonna, nein, wie die Flora in d. Uffizien (das Motiv das Dürer übernommen
hat) ; ich schrieb damals, daß sowohl Dürer als auch Tizian es von einem andern ge-
meinsamen Vorbild haben. Wenn auch Montagna dafür kein Beweis ist (der Bursche
war immer weiß Gott zurückgeblieben) kann [er] das Bild ganz gut nach 1506 (dem
vermutlichen Datum d. Kirschenmadonna) unter Tizians Einfluß gemalt haben – so
ist mir doch eingefallen, daß das Urbild vielleicht auf Mantegna zurückgeht. Schließ-
lich ist es dasselbe scorzo-Kunststück wie die Madonna della Victoria, nur daß die
Hand umgedreht ist
…
Die Stadt selbst hat ganz hübsche Plätze, Durchblicke, Details – aber kaum eine
Gesamtwirkung. Ein antiker Sarkophag vor Santo Stefano ; an den Schmalseiten
Meleager, die Sau und Herkules (?) den Hirsch tötend, an der Rückseite ein großes
schönes Relief, à la 3 Königs-Zug, ein Kamelreiter, ein von zwei Männern gerahmter
Roßreiter und rechts zwei Männer, die an Doppelstangen über d. Schultern in einem
Netz gefangene Tiere tragen – ein Urtyp für den biblischen Traubenträger aus d. ge-
lobten Lande
…52
Wir sind den Fluß entlang auf schmalen Spazierwegen um d. Stadt herumgegan-
gen
– es sind getretene Wege zwischen Büschen und Gärten, ganz ohne Steinmauern,
ohne Staub, überhaupt schon als Möglichkeit Spazieren zu gehen ganz unitalienisch !
Das Wetter scheint besser zu werden.
Sonntag 27.IX.1925
Calalzo, Albergo alle Marmarole. Ich liege im Bett, schau aus dem Fenster hinaus –
Berge und Wolken
– eine Wolke wie eine gewaltige Frau hab ich grade gezeichnet.
–
Am Abend in Belluno waren wir im Marionettentheater. Die Puppen fast lebens-
groß, Arlecchino in seiner traditionellen graziösen Eckigkeit warf die Beine mit un-
geheurem Aufwand. Es war jedesmal wie ein kurzer Vortriller zur betonten Note. Die
Handlung, die zwischen Venedig u. Marokko spielt, triefende Moral.
–
Am nächsten Morgen (25.) machten wir einen kleinen Spaziergang, um die Stadt
noch einmal bei blauem Himmel zu genießen u. fuhren dann mit der kleinen, aber
gut gehaltenen Bahn Piavetal weiter aufwärts, zwei Stunden immer höher hinauf von
400 auf fast 900 m, nach Pieve di Cadore. Die Landschaft ist wundervoll ; nicht so
tragisch wie am Tagliamento, aber wunderbar wechselnd in Licht und Stimmung. Die
Berge, die gerade noch feste Form waren, wie „von Riesentieren aufgeworfen“, daß
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien