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Tagebuch 1925
man das Werden mit d. Augen zu greifen glaubt, sind im nächsten Augenblick tief
blauviolette Augenphantasmen, wie Tizian sie auf seinen Hintergründen malt. Von d.
Station führte uns der Autobus nach dem Ort (20 Minuten), wir stiegen im Albergo
del Progresso ab, das sich aber ein wenig als Wurzerei* erwies. Nicht daß es zu teuer
war – aber es wurde für die 40 L[ire] Pension zu wenig Bequemlichkeit geboten. Vor
allem lag das Zimmer nicht nach d. Sonnenseite, hatte keine Aussicht u. darauf hat
man in dieser einzig schönen Gebirgsgegend Anspruch. Eigentlich sind es zwei paral-
lel gehende Täler, die durch einen Kamm getrennt sind. Man ist in einer Viertelstunde
auf der Höhe und überblickt dann beide. Dazu kommt noch, daß man auf die äuße-
ren Hänge auch ohne Mühe hinaufkann u. von dort her den Blick hat. Die kleinen
Ortschaften (alles im Sommer viel besuchte Sommerfrischen) liegen nur 2 bis 3 klm
auseinander. Die ganzen Täler sind so besiedelt. Tizians Geburtshaus wirkt wie ein
Bauernsitz. Natürlich hab ich es in mein Skizzenbuch abgezeichnet, es war spät am
Abend und die rote, dann graue Dämmerung wurde schließlich von einer elektrischen
Straßenbeleuchtung eingeholt, die einen Kubin-Gespensterhaften Eindruck machte.
Auf meiner Zeichnung ist nichts von diesen wechselnden Effekten zu sehen
…53
Gestern vormittag während ich [mich] von einer sonnigen Bank aus mit einer
Landschaftszeichnung plagte, ging Hans die Gegend erforschen. Das Ergebnis war,
daß wir noch vor dem Mittagessen hierher nach Calalzo übersiedelten. Ein Alter trug
unser Gepäck ; er hatte ein Organ, dem ich nicht allein im Walde begegnen möchte.
Er stellte sich aber als ganz harmloser Schwätzer heraus
…
Diese paar Tage Ruhe in dieser herrlichen Luft sind endlich das für diese Reise
Ersehnte. Wenn ich dichten will, nehme ich den Tintenblei, wenn ich zeichnen will
den andern. Hans setzt mich an irgendeinen Punkt und fragt dann (da er die Blei-
stifte bei sich eingesteckt hat) „Kalt oder warm ?“ Ich antworte : „Beides bitte.“ Wenn
ich dann beides habe und Gummi u. Brille und Messer und Skizzenbuch u. Notiz-
block, läßt er mich allein
– und ich schau in die Luft. Hans geht spazieren, er arbeitet
einen Vortrag aus d. h. er nimmt sich z. B. vor den Vortrag über OK durchzudenken.
Das genügt schon. Er geht und schaut, denkt nicht ein einzigesmal an d. Vortrag –
der arbeitet sich schon
…
Heut früh hat er mir einen schönen Stoff für eine Novelle erzählt. Zur Zeit der
Besatzung des Friaul spielt sie
…
Wien, 30. Sept[ember]
Wir sind heute Nacht heimgekehrt. Haben das Haus in bester Ordnung vorgefunden,
die Kinder in bester Laune, einige Arbeiten als Belegexemplare, einige Gelder einge-
gangen. Kurz – wenn es nicht regnen würde, grau u. kalt wäre, wär’ alles gut. Aber es
regnet, es ist grau u. kalt
…
* Wucher
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien