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Tagebuch 1925
dert), den ich teleph[onisch] nicht erreicht hab, der Gaby gegeben, zufuß in die Stadt,
kurzer Aufenthalt bei den Fixleins, Rendez-vous mit Hans im Burgtheater (!), De-
metrius von Schiller, Heinrich von Andernach von Unruh. Schiller als Fragment ist
wirklich noch genießbar. Erstens kurz, zweitens die harte Logik doch angenehm für
unsere Phantasietätigkeit skizziert und offen gelassen. Die ersten Szenen mit Volk
und Reichstagspathos (also Schiller zur Potenz erhoben !) kaum zu halten. Und doch
wieder nur, weil sie schlecht gespielt werden, unhaltbar. In der Tat ist ja das ganze
bezahlte unwahre Pathos dieser Szenen (die man für echte Burgtheaterherzenstöne
hält) von Schiller beabsichtigt. Es ist die Intrige bestochener Leute, die so laut he-
rumschreit. Großartig die Szene : Mutter (Bleibtreu) und d. Patriarch. – Aber das
Stück von Unruh packt ganz anders. Es ist das Festspiel für die Jahrtausendfeier in
Köln. Raffiniert der Gegensatz von Aktuellem und Symbolischem. Vielleicht in Ein-
zelheiten zu stark „Festspiel“ (so z. B. die Erscheinung des Sohnes zu blutlos), darum
aus dem Rahmen genommen nicht ganz überzeugend (gequält, geschmacklos). Aber
doch überall mutig erdacht. Ich möchte diesen Stoff von – von Schiller gemeißelt
sehen
…
Wir haben Tante Anna die auch im Theater war, gesprochen ; sie war nicht anders
hilflos von diesem Stück als das andre Publikum – und zog sich auf das […] erste
Stück zurück : „
– aber der Schiller ist mir doch lieber.“
–
Hans hat wieder große Aufregungen ; das Finanzminist[erium] will ihm die Ein-
ordnung in die zweite Rangklasse nicht zuerkennen ; Hans hat noch einen Schritt
beim Minister Grimm gemacht, am 1. Dezember wird es sich entscheiden. Es han-
delt sich um eine beiläufige Jahresdifferenz von 10
Millionen.67
1. Dezember 1925
Hans ist in die zweite Rangklasse gekommen. Gestern abend empfing er mich Alea
iacta esto.
Demnächst fängt also ein neues Leben an. Gott segne es !
Mein Gott, das wird heuer ein Silvester werden !68
2. Dezember 1925
Gestern war ein sonderbarer Tag. Eigentlich hatte ich mit Nirenstein bei Georg ein
Rendezvous (um ½ 3) wegen Preisbestimmung etc. für die nächste „Schau“. Am
Vormittag teleph[onierte] er mir, Gerda sei krank, müsse ins Spital, er wisse nicht
was ihr fehlt. Das Rendez-vous fand aber dann doch statt. Ich kam vor Nirenst[ein],
Georg war todmüde, ich sagte ihm, er solle sich doch bisserl ausruhen. Er lag auf
dem Sofa und schwieg. Dann sagte er plötzlich : „und das gerade jetzt, wenn ich
im besten Arbeiten bin. Ich habe eine Büste von ihr angefangen – wer weiß, für
wie lang ich sie unterbrechen muß !“ Ich antwortete nicht. Dann sprachen wir über
andre Sachen. Dann fing er wieder an. „Das wird doch sicher eine Unterbrechung
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien