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Tagebuch 1925
besuch seit langer langer Zeit. Schon die Art, wie sie sich hingesetzt haben : Burgl
ganz vorn aufm Sprisserl, voll Neugierde den Kopf hinausgeschoben, Anderl ganz
gemütlich zurückgelehnt, Vroni beide Arme auf d. Brüstung gelegt u. den Kopf
drauf wie das Engerl von der Sixtin[ischen] Madonna. Am Anfang war Burgel unge-
halten über die Musik, weil man so schlecht dadurch versteht, was sie sagen. Vroni
(gewöhnt ins Marionettentheater zu gehen findet „Die Figuren sind schön.“ Burgl
(wie die Mutter reuig weint, daß sie d. Kinder in d. Wald gejagt hat, beruhigt sich
immer wieder) : „Heimlich lacht sie doch.“ Beim Hungerlied des Vaters sagt Vroni
(Sänger sind halt doch immer dick) „Die sind alle so dick und reden immer vom
Hunger.“ Vroni zeigt auf einen Herrn im Orchester : „Das ist der Herr Gonda.“
Während der Ouvertüre (in die wir verspätet hineinplatzten) sagt Burgel : „Gott sei
Dank, daß es noch nicht angefangen hat.“ Während des Hexenliedes dreht sich Bur-
gel neugierig um : „Was sagt sie ?“ Vroni nachdrücklich : „Sie singt nur.“ Burgel fragt,
ob die Hexe auch kommen wird. Vro[ni :] „Natürlich, das ist ja die Hauptsache.“
Gretl singt : Ein Männlein sitzt im Walde, – Vroni : „Das ist ein Rätsel – das kann
ich auch auswendig.“ Beim Kuckuckslied Vroni : „Die Menschen mit den Flöten
machen Kuckuck. Ich bin draufgekommen.“ Burgel : „Siehst du das Hexenhaus ?“
Vroni : „Ich seh’s, ganz verdunstet.“ Wie die Englein zu den schlafenden Kindern
niedersteigen, Burgel : „Der Jakob hat auch so einen Traum gehabt.“ Vroni : „Ein
schöner Traum.“ Beim Engelreigen Anderl : „Das hab ich gern, wenn sie so tan-
zen.“ Weil dann das Schlußtableau mit den Engeln ist : Burgel : „Vielleicht schaut
die Hexe her.“ Beim Hexenhaus zeig ich der Vroni die Lebkuchenkinder. Vroni :
„Nur das erste, wo sie schlecken, wird Lebkuchen sein, das andre ist Pappendeckel.“
Am Schluß sind alle sehr dagegen, daß sich die verbrannte Hexe vor dem Vorhang
verneigt. „Das stört“, sagt Anderl.
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Nach d. Theater waren wir bei Berls, wo unter dem 5 m hohen Christbaum „aus
den eigenen Forsten“ die Weihnachtsgeschenke der Familienmitglieder zur Schau
gestellt sind. „Ei, wie schön das arrangiert ist, wer hat das denn gemacht ?“ frag ich –
um nach d. Antwort dann die Mutter oder eine d. Töchter bewundern zu können.
„Ein Auslagenarrangeur“ – sagt der Herr Rat. Die Frau wiegt jetzt 39 kl ; sie sieht
furchtbar aus. Die Stimmung ist schrecklich gedrückt. Alle warten, daß es läutet, daß
der Diener einen Gast anmeldet, einen Gast der die Geschenke bewundern wird, ein
Gast der vielleicht einmal um eine Tochter anhalten wird. Wir (Anderl u. ich – die
Mädeln hatte ich mit Therese heimgeschickt) wir blieben nicht lange. Beim Nach-
hausefahren sagte ich zu Anderl : „Ein schöner Baum war das, gelt ?“ Anderl machte
ein Schnoferl* : „Zu dicht.“ Wie wir gegen Döbling kamen, sagte Anderl : „Hier fängt
man schon an, sich so auf zuhause zu freuen.“72
* Schmollmund
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien