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Zur Spanienreise
Wald, ja unsere Bäume aber urwäldlich verdichtet, Granada sieht aus wie ein Stück
Heimatboden, Traunfluß und Rosenburg“).
Dank Kunstgeschichte und bürgerlicher Weltläufigkeit kommt man gut zurecht,
solange es sich nur wirklich um Europa handelt („Bei Tag sah die Stadt nicht viel
weniger uneuropäisch aus als bei Nacht. Der aufstrebende Ehrgeiz wechselt gut mit
grenzenloser Primitivität“). Und nirgends scheint sich diese Weltläufigkeit besser zu
bewähren als etwa in Toledo, wo man durch strikte Orientierung am Allgemeinen
und Konventionellen möglichen Assoziationen zur eigenen Herkunftsgeschichte
entgehen kann. Die immerhin bedeutenden Synagogen Toledos verflüchtigen sich im
Gleichförmigen des alten Gesteins. Völlig auf verlorenem Posten ist man aber, wenn
etwa beim Anblick der nasridischen Alhambra in Granada das eigene ästhetische
Wertesystem außer Kraft gesetzt wird („Ich muß alle Vernunft zuhilfe nehmen, um
über das einer ästhetischen Einstellung Entgegengerichtete dieses Stils hinwegzu-
kommen“).
Schließlich wird das Reisen selbst zum kreativen Akt („Jener erste und dieser
letzte Ausflug auf den Tibidabo, das war ein guter Anfang u. ist ein guter Abschluß
–
der Kreis schließt sich zur eindrucksvollen Insel. Es ist wie die gereimten Zeilen, die
ich so gerne hab – vorn der Klang in der oberen Zeile zum Klang am Ende in der
letzten“). Beim Zeichnen kommt Erica Tietze-Conrat den Menschen näher – oder
diese ihr. Kunst braucht keine Worte. Im verspielten Umgang mit dem Alltäglichen
–
Blumen, achtlos weggeworfene Eierschalen
– wird die sonstige Undurchdringlichkeit
überwunden.
Doch wer könnte sich schon frei von Vorurteilen nennen ? Dass auch Erica Tietze-
Conrat gelegentlich an ihnen kränkelt, zeigt die ungewöhnlich drastische Ausdrucks-
weise, zu der sie sich im Zusammenhang mit „Zigeunern“ beziehungsweise der „ein-
fachen“ spanischen Bevölkerung (was nicht selten dasselbe ist) hinreißen lässt. Im
Kontext mit dieser überall und gelegentlich auch nirgends heimischen Volksgruppe
fällt immerhin viermal die diffamierende Bezeichnung „Affen“ („… an Balkongittern
die Kinder wie die Affen klemmen“ usw.). Die Begegnung mit den spanischen „Gita-
nos“ mag für Erica Tietze-Conrat in zweierlei Hinsicht beunruhigend gewesen sein.
Zum einen wegen des – sich zu allem Überfluss auch noch distanzlos gerierenden –
Unverständlichen und Fremden und andererseits wohl auch aufgrund möglicher Be-
rührungen in einer Geschichte der Diffamierung und Ausgrenzung. Die „Zigeuner“
lagern schließlich auch buchstäblich am Ufer vis-à-vis („Am Rückweg an dem von
Karl V. gegründeten Kanal entlang – am anderen Ufer hatten Zigeuner ein Lager
aufgeschlagen
…“).
Mit ihrer Reise waren Tietzes in eine seit Jahrzehnten schwelende Debatte ein-
getreten, die sich an der Frage entfacht hatte, welchem der beiden Künstler – Veláz-
quez oder El Greco – die Vorrangstellung in der Kunst und die Rolle des Vorreiters
für Impressionismus und Expressionismus einzuräumen wäre. Und während sich der
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien