Seite - 389 - in Erica Tietze-Conrat - Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Bild der Seite - 389 -
Text der Seite - 389 -
389
Initiator dieser etwas gequälten Kontroverse, der Kunstkritiker Julius Meier-Graefe
(seine Spanienbriefe waren 1923 neu aufgelegt worden,2 er wird aber wie Carl Justi
nie namentlich erwähnt), in Erwartung von Velázquez schließlich vor den Originalen
rückhaltlos zu El Greco bekehrt hatte, gibt Erica Tietze-Conrat bei den Bildern im
Prado jeden möglichen Zweifel auf : „Velazquez [sic !] der Höhepunkt. Wieder der
Höhepunkt“, „und immer wieder Velazquez“, schwärmt sie. Dabei stellen ihre Begeis-
terungsbekundungen weniger ein Für oder Wider dar als den Versuch, in erwähnter
Auseinandersetzung eine Autonomie im Urteil zu wahren. Denn wie Martin Warnke
meint : „Meier-Graefes Position bezeichnet den Übergang zu diesem modernen in-
differenten Wahrnehmungstypus : Er muß bereits eine Vielfalt rasch wechselnder
Stile besprechen und beurteilen, doch kann er dies nicht wertfrei mitvollziehen, son-
dern er muß sich jedes Mal fundamentale Gründe neu erarbeiten, die seine Stellung-
nahme glaubwürdig machen. Implizit deutet sich an, daß die bloße Wahrnehmung,
das nackte Auge, diejenige (fiktive) Instanz sein wird, die von solchen Begründungs-
zwängen entlasten kann.“3
Wenig verwunderlich ist, dass in einer Baedeker-Ausgabe von 1912 Architektur
und Kunst des katalanischen „Modernismo“ nur am Rande erwähnt werden. Zum
Zeitpunkt der Reise der Tietzes hatte diese Bewegung ihren Höhepunkt bereits
überschritten ; ihr Hauptexponent, der Architekt Antonio Gaudí (1852–1926), ver-
starb in eben jenem Sommer. Für Kunsthistoriker, die Expressionismus und Moderne
nahestehen, ist diese katalanische Ausformung des Jugendstils trotz seiner Auffällig-
keit eine bereits abgetane Sache.
Anmerkungen
1 Karl Baedeker, Spanien und Portugal, Handbuch für Reisende, Leipzig 1912 ; Karl Baede-
ker, Österreich, Handbuch für Reisende, Leipzig 1926.
2 Julius Meier-Graefe, Spanische Reise, Berlin 1910 [1923].
3 Martin Warnke, „Julius Meier-Graefes ‚Spanische Reise‘
– ein kunstkritischer Paradigmen-
wechsel“, in : Gisela Noehles-Doerk (Hrsg.), Kunst in Spanien im Blick des Fremden, Rei-
seerfahrungen vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Frankfurt am Main 1996, 221–228,
227.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien