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Tagebuch 1926
rutschten dann die Stämme hinunter, immer wieder, erst Schirm, dann Stamm. Hans
hat mir Blumen gepflückt, eine Art Enzian und ein wunderbar wie Salbei duftendes
graues Kraut, das violett oder weiß wie Malven blühte – damit ich am St. Georgstag
doch auch Blumen bekomme – der Sitte von Barcelona entsprechend. Ich hab dem
Georg (– und auch Georg hatte) geschrieben
…16
Heut früh fuhren wir bei tröpfelndem Wetter ab nach Tarragona.
25.IV.
Der erste Tag in Tarragona war besser als uns der nasse Morgen erwarten ließ. Vor
allem war die Eisenbahn eine angenehme Enttäuschung : die Wagen breiter als bei
uns, wohl gepflegt und 2/3 leer. Der Rest angenehmes Publikum, ein Jüngling neben
mir sogar, mit hellen Gamaschen über den schwarzen Lackschuhen. In Tarragona
ließen wir unser großes Gepäck auf der Bahn und gingen ins Hôtel Continental,
das der Baedeker als „mit modernem Komfort“ anpries ; aber der Baedeker ist von
1912 ! Dann der Gang durch die Stadt, erst die Rampe hinauf mit dem Blick aufs
Meer ; ich hatte mein Skizzenbuch im Hôtel gelassen, da der Ort als Festung noch
gilt u. das Zeichnen verboten ist. Die Stadt selbst ein zeitloser gelber Steinhaufen,
aber die Kathedrale hoch oben wie in Honig getaucht. […] Markt, Zwiebelgeruch.
Mancher Stand nur ein Sacktuch Platz vor dem hockenden Verkäufer, eine Handvoll
Muscheln darauf. Der Dom innen ist klar und durchsichtig gegliedert, alte Fenster,
die als bunte Lichteffekte in den Mauern glühen. Wir haben am Nachmittag den
Rundgang in d. Kathedrale fortgesetzt und waren im Kreuzgang, der geräumig, gold-
gelb zum Grün in der Mitte, an der Südseite der Kirche liegt. Frauen hatten große
blumengefüllte Körbe darin abgestellt ; als sie sahen, daß ich mir eine heruntergefal-
lene Fliederstauden holte, reichten sie mir einen Strauß. Der Aufseher des Diöze-
sanmuseums, das seit kurzem in einem Trakt am Kreuzgang errichtet ist, nannte mir
die Namen u. freute sich, daß sie genau mit den französischen stimmten. Ja so ist es,
als Gott den Adam erschuf, da machte er gleich nebenher aus einem noch gröberen
u. dauerhafteren Stoff den Katalonier. Und eigentlich stammten die meisten Völker
von diesem auch ab ; die Franzosen haben eben ihre Sprache vom Katalanischen ab-
geleitet
…17
In der Kapelle der hl. Thekla, die irgendwo im Grünen im Komplex der Kathedrale
steht, saß ein älterer Mensch mit einem melancholischen Schnurrbart und einem
Ehering an den braunen Händen und spielte Harmonium ; das sah aus wie eine auf-
gestellte Eierkiste. An seiner Seite saßen zwei größere Buben, blätterten um und san-
gen u. schienen den Lehrer zu bemuttern. Auf einer Bank gegenüber drei andere,
sangen und wippten sich, die Hände um das aufgezogene Knie geschlungen. Es klang
wie Blech, so spröd
…18
Am späteren Nachmittag gingen wir aus der Puerta hinaus zum römischen Aquä-
dukt. Alle Mädchen, an denen wir vorüber kamen, baten mich um eine Blume. Ich
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien