Seite - 399 - in Erica Tietze-Conrat - Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Bild der Seite - 399 -
Text der Seite - 399 -
399
Tagebuch 1926
gab sie aber nicht und war später dann froh sie gegen den Straßenstaub vor meiner
Nase zu haben. Wir fragten erst einen alten Soldaten um den Weg, der so aussah wie
ich die altösterreichischen Wächter in Erinnerung hab und sich mit seinem rollenden
R und […] L sich ganz gut verständlich machte. Auch fragten wir einen Lämmerhir-
ten, der aber obgleich nur zwei klm von der Sehenswürdigkeit entfernt, doch keine
Auskunft geben konnte. So ein Lämmerhirte ist in jedem Land aus einem homeri-
schen Gesang heraufgetaucht
…
Zum drittenmal fragten wir bei der Stadtgrenze von Tarragona ; da bekamen wir
eine ungemein präzise Wegbeschreibung vom Aufsichtsorgan. Die eigene Frau ver-
lor über die eingehende Auskunft die Geduld u. wollte es kürzer machen, wurde
aber zur Ruhe verwiesen. Die Sonne ging flammend orange unter, die Hügel wurden
pathetisch, die Häuser Blöcke, die aus der Antike die gefaßten Formen zu schöpfen
schienen. Wir schoben das Lichtschauspiel auf die Meeresnähe, aber es entpuppte
sich als Vorbote des Sturms, der überall von so blendendem Heroldsmantel ange-
zeigt wird. Und er kam über Nacht, aber wir waren schon so ganz darauf eingestellt,
den heutigen Tag in Poblet zu verbringen, daß wir uns durch das Wetter nicht ab-
schrecken ließen. Um ½ 8 brachen wir mit der Bahn nach L’Espluga de Francolí auf.
Erst am Meer, dann durch den fruchtbaren Streifen Erde, der zur Öde der ersten
Sierra führt. Ich hab im Zug gezeichnet und eines meiner Objekte versicherte mir,
daß nach seiner Meinung u. der Meinung aller anderen Anwesenden (er begleitete
den Ausspruch mit einer Handbewegung die den ganzen Halbkreis von Zuschau-
ern meiner Zeichenkunst umfaßte) „meine Hände sehr gut zum Zeichnen wären“
(buenas manos a dibujar). Es war ein sehr zugiges Koupé, der Hut vom Hans flog
zum Fenster hinaus. Wir bekamen dadurch etwas Bemerkenswertes u. bei jeder Sta-
tion gaben uns die Aussteigenden den Einsteigenden weiter. Der Weg nach Poblet
war furchtbar ; ich kann mich gar nicht erinnern je so gefroren zu haben. Vielleicht
im Klosterneuburger Stiftsmuseum, das ich in diesem Winter am Tage des ersten
Schneefalls besuchte
…19
Mit uns ging ein Verein der Dekorationsbildhauer von Barcelona nach Poblet, die
hatten alle photogr[aphische] Apparate bei sich. Am Fuß der Sierra liegt die gelb-
braune Ruine, eine kolossale Zisterzienser Anlage, romanischer, gotischer, barocker
Zeit, in den 20ger Jahren des 19. Jhs von den Carlisten aus politischen Gründen
verwüstet. Die Kirche (romanisches Mittelschiff, gotische Seitenschiffe) der Kreuz-
gang der Bau des Königs Martin, der Schlafraum u. s. w. alles sehr bedeutende u. ge-
rade durch ihre vollkommene Ausgeräumtheit eindrucksvolle Bauten, die sicher noch
1000x schöner wären, wenn der blaue Himmel darüber wäre
…20
So aber fühlen wir uns persönlich benachteiligt, gingen zur Station zurück. Hans
machte mir gegen den Sturm „Rückendeckung“ ; sitzen hier im Warteraum u. warten
unsere
– zwei Stunden auf den Zug zurück nach Tarragona.
–
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien