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Tagebuch 1926
steigen und wenn der Zug auch eine halbe Stunde gestanden ist, doch erst ein, wenn
er […] schon in Bewegung gesetzt wird. Die letzten Minuten hört man es vor allen
Fenstern schnalzen – das Abschiednehmen. Bei einer Station fuhr eine Frau mit ei-
nem einjährigen Bébé fort ; es stieg neben uns ein, es war prächtig hergerichtet mit
einer Riesenmasche im schütteren Haar ; die ganze weibliche Bevölkerung des Ortes
war zum Abschied mitgekommen ; sie standen so dicht vor dem Coupé, daß wir aus
unserm nicht hinaus konnten
…
Draußen war wieder trostlose Wüste, tiefgefurchte
Falten der übersandeten Felsen mit fruchtbarster Hu-
erta abwechselnd. Aber die Bahn steigt und vor Gu-
adix kommt sie 1300 m hoch ; die weißen Schnee-
berge steigen aus der Hochebene auf, trotzdem
keine Wolke hier oben zu sehen ist, ist es grimmig
kalt. Eingebettet in eine Talmulde, in der es wieder
grün aufschießt, liegen die schneeweißen Häuser von
Guadix, dahinter die gezackte Sierra Nevada. Diese
Schneeberge schauen ganz anders aus als bei uns : es
sind lange Ketten, auf dem grauen, baumlosen, gras-
losen Unterbau … die Fahrt hinunter (Granada liegt
nur 600 m) – unleidliches Geschiebe. Ich bin gele-
gen, aber die Bank war sehr hart u. ich konnte nicht
schlafen.
In Granada, in der Fonda Granadina (ausgezeich-
net) hatte man auf uns gewartet, die Leute saßen bei-
sammen und wärmten sich an Gluthäferln. Wir hat-
ten uns Spanien anders vorgestellt
…
Das sagten wir noch nachdrücklicher, als wir heute
den ersten Rundgang durch die Stadt machten. Gra-
nada sieht aus wie ein Stück Heimatboden, Traunfluß
und Rosenburg, Ulmen und frischgrüner Grasboden, Bergabhänge und Flußprome-
naden – in die tiefsten Tropen hineingesetzt : Es läßt sich nicht ausdenken, wie über-
raschend dieser Bergabhang mit der Alhambra am Ufer des Darro ist, ganz übergrünt
von den hohen Ulmen … Und in den Gärten diese Phantasmen von südlichen Bäu-
men von denen wir die Namen nicht kennen
…
Wir haben die Kathedrale gesehen, die Särge der Eltern und Großeltern Karl V.,
der dekadenten jüngeren und der tatkräftigen älteren Generation. In einer Seitenka-
pelle war ein großer Dirk Bouts Flügelaltar – d. h. das Mittelbild (Kreuzabnahme) u.
die beiden schmalen Seitenflügel in einen prachtvollen goldenen Altaraufbau aus der
Mitte des 18. Jhs eingelassen – eine Art des Denkmalschutzes oder auch Kunstkul-
tes, der wunderbar lebendig wirkt. Am Nachmittag nahmen wir als Ziel die aufge-
Abb. 76 : „Granada sieht aus wie ein Stück
Heimatboden – in die tiefsten Tropen
hineingesetzt.“
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien