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Tagebuch 1926
sie gebreitet, ein flacher Haufen liegen sie dort. Und der Stier, ein friedliches Tier,
das mühsam zur Wut oder eigentlich nur zur Abwehr gereizt wird, der schließlich
zu Tode getroffen sich auf die eingekrümmten Beine wie zum Wiederkäuen – zum
Sterben niederlegt. Der letzte heulte und in dem Riesenraum klang es entfernt u.
leise wie von der Weide. Dann brachen ihm Ströme von Blut aus dem Maul. Und alle
Menschen schauen zu, schauen zu – man weiß doch wie jedes Tier allein sein will,
wenn es stirbt
– wie es sich verkriecht
…
Nach dem ersten „Gang“ wollten wir weggehen
– aber es ist unmöglich, man kann
nicht aus dieser Menschenmenge heraus – So mußten wir alle sechs Stiere sterben
sehen. Nie, nie mehr
…
Heute war ein tiefblauer Morgen, wir fuhren nach Segovia, das 1000 m hoch liegt.
Auf der letzten Strecke hat es etwa eine Stunde lang tüchtig geschneit. Es ist furcht-
bar kalt und der Ort ist zumeist auf Landschaftseindrücke hin zu besichtigen. Die
römische Brücke die ein oder mehrgeschossig mit riesigem Schritt über die Stadt
hinübergeht (12 klm lang !) braucht auch den blauen Himmel in dem Bogen und was
sonst geboten wird, hat sich nicht der Mühe verlohnt. Ich war vom Frieren so übel
gelaunt, daß ich dem Hans lauter böse Dinge gesagt habe, die jetzt wie große Steine
zwischen uns liegen
– und ich möchte sie so gerne vom Weg weggeräumt haben. Wir
sitzen im Café gegenüber der Bahn u. warten auf unseren Zug, der 2 Stunden später,
als wir geglaubt hatten, wegfährt
…
18.V.
Als wir spät abends nachhaus kamen, war ein lieber Brief vom Stoffel da. Heut ha-
ben wir wieder einen Pradovormittag gemacht. Die Lieblinge haben sich schon he-
rauskristallisiert, man besucht nur mehr das, was man will. Den Kardinal und die
Perle von Raffael, den 2. Tiziansaal mit den Königsportraits u. den […] von Ferrara,
der Glorie ; und immer wieder Velazquez. Wenn man von d. Jugendbildern (Mars u.
Bacchus bei d. Hirten) absieht, so steht er ganz jenseits d. Kunstgeschichte u. kann
doch alles. Von Ribera ist auch ein wundervolles Bild da : Schlafender Jakob, der im
Traum die Engelsleiter sieht. Ein Riesenbild ganz einfach u. doch nicht leer. Die En-
gelsleiter so diskret, fast nur ein Sonnenstreif – aber das Schlafen schwer und doch
visionär. Ein Gottvater der den Leichnam in d. Arm hält (auch ein frühes, im Aus-
druck so starkes, darum nordisch wirkendes Bild) hat mir über dieses einzigartige
Mysterium zu denken gegeben. Nachmittags zuerst bei den „30.000 Zeichnungen“
in der Nat[ional]bibliothek, die „Zimelien“ sind ausgestellt, zumeist zweit- und drit-
trangig. Schön nur ein Reiter eigentlich nur ein Vorderteil eines Pferdes von Murillo.
Die Proben, die wir nach dem Katalog von den unausgestellten machen unter den
[…]50
Das Wetter ist milder
– wir sind wieder guter Laune.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien