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Tagebuch 1926
in seiner fließenden Gebärde an den erschütterten Reiter von der Kreuzigung Christi
denken läßt
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Dann ein wundervoller Vormittag im Prado, wo wir die Lieblingsbilder nach ihren
Landschaftshintergründen befragten. Am Nachmittag machten wir einen Pflicht-
besuch bei der gestern eröffneten Ausstellung moderner Kunst, es war trostlos und
ich habe schon beim zweiten Pavillon gestreikt. Das ist dort sehr verlockend, da die
Ausstellung im Retiro (meinem geliebten Park) stattfindet. Abends ein paar Pho-
tos gekauft und – wieder mit ein paar Regentropfen – gegen neun, der Nachtmahl-
stunde, nachhause. Unsre Hausleute machen in der entlegenen Küche so viel Lärm,
man glaubt inmitten eines Volksfestes zu sitzen. Um die Illusion zu vervollständigen
ist unter uns eine Tanzschule, wo „andalusische“ Tänze gelehrt werden, von früh bis
abends um 10. Man hört ununterbrochen die Castagnetten klappern, die Füße auf-
stampfen und immer dasselbe Geklimper. Ich hätte nichts dagegen, wenn ich nicht
nur hören, sondern auch bisserl zuschauen könnte
…
Gestern kam ein lieber Brief von Georg, heute von zuhause ; sie haben überhaupt
sehr brav nach Madrid geschrieben
…
23.V. Pfingstsonntag.
Gestern war unser letzter Tag in Madrid. Wir haben dem Prado einen letzten Be-
such abgestattet und Hans ist nach Tisch in der Armeria gewesen. Meine Abneigung
vor Rüstungen u. meine Liebe zur Siesta ließen mich darauf verzichten. Dann nach
Bombilla hinaus ; dort sind zu Beginn ein paar Tanzlokale im Freien, ein paar schicke
Restaurants und dann ein Park in der Art unseres Neuwaldegger. Über den dunklen
Waldbäumen eine Anhöhe mit spärlichem Graswuchs auf dem sandigen Boden, Dis-
teln, Liebespaaren. Aber nur wenige
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Dort sind wir noch lange in der untergehenden Sonne gelegen. Nach dem Abend-
essen endgültige Packerei. Felipa, die Chica (Dienstmädel) mit dem niefrisierten
Bubikopf hat beim Abschiednehmen feuchte Augen gehabt und mich – auf beide
Wangen geküßt
…
Heut um ¾ 9 fuhren wir – erste Station – nach Escorial, wo wir im Hotel Mi-
randa herrlich untergebracht sind. Vor dem braungrauen liegt über einem großen
Park der herbe gesammelte Riesenbau Phillip II. Die Schneeberge schauen he-
rüber. Nachtigallen singen, Heckenrosen blühen, aber die Bäume auf der Allee
bekommen erst Blätter. Wir sind 1026 m hoch. Die Galerie ist außerordentlich ;
das Riesenbild von Greco Der Hauptmann der thebaischen Legion springt durch
den ganzen Saal auf durch sein Kolorit ; es erinnert an Bronzino, die Komposition
überhaupt stark florentinisch. Alles was dieses Bild so besonders eindrucksvoll u.
großartig macht, liegt in dem Andern, das der üblichen Vorstellung Grecos nicht
entspricht ; wieder ein Beweis, daß Greco seine Aktualität für uns verloren hat.
Das „Abendmahl“ von Tizian ist genau so gewesen, wie ich es erwartet habe, sodaß
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien