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Tagebuch 1926
25.V.
Ich sitze am Bahnhof in Medina di Campo, auf derselben Bank, die uns gestern fünf
Stunden lang beherbergt hat. Also der gestrige Tag hat in der Tat ganz der Eisenbahn
gehört ; um 9h55 reisten wir vom Escorial ab, hatten in Medina keinen Anschluß, weil
dieser nur dreimal wöchentlich funktioniert und schrieben u. schrieben in der lufti-
gen Halle, gingen […] die Stadt besuchen, die gerade von jungen Kadetten belegt
wurde, alles dekoriert und alle Cafés ihre Schanigärten installierend
…57
Abends kamen wir über die tellerflache Ebene nach Salamanca, der alten Universi-
tätsstadt. Gerade ging eine Prozession über den Platz, „la virgen“ wurde getragen ; wir
hörten nur das festliche Schießen u. sahen die heimkehrenden „Engel“. (Mäderln in
blauen Gewändern mit rosa Flügeln u. umgekehrt). Die Plaza major ein Riesenplatz,
geschlossen, mit Lauben herum, aus einem Guß im 18. Jh. gebaut, macht einen herr-
lichen Eindruck. Die ganze Stadt ist goldgelb, eine wundervolle Farbe. So viele Kir-
chen, die alte großartige romanische Kathedrale (außer Gebrauch) mit intim schönen
Kapellen um d. Kreuzgang ; alles köstlich aufgebaut von den römischen Brücken aus
zu sehen ; an den Ufern unten Wäscherinnen, auf den grünen Inselchen des seichten
breiten Flusses weidende Esel, einer, zwei, meistens drei. Der Rückweg nach Medina
am Nachmittag in einer noch bummeligeren Bahn ; ich hab gezeichnet ; eine Frau,
einen Alten – viel Erfolg. Ein alter Unteroffizier bittet jetzt drankommen zu dürfen.
Gut gelungen. Es wird sogar brav geklatscht. Ein Bauer mit einem Vogelgesicht will
mir seine Photogr[aphie] schenken. Der Unteroffizier aber will seine Zeichnung kau-
fen. Ich lehne ab. Er insistiert u. zieht einen Duro (5 P[eseten]) heraus. Ich trenne das
Blättchen aus dem kleinen Skizzenbuch und will es ihm schenken. Nein, nur gegen
Bezahlung. Ich gehe nicht darauf ein, er beharrt aber auf seinem Wunsch zu bezahlen
u. lehnt seinerseits das Geschenk ab. Schließlich bittet sich einer seiner Soldaten das
schon abgetrennte Bildchen aus u. legt es in die Brieftasche. Ich wollte dann einen
lustigen jungen Burschen (Soldaten) zeichnen, aber der Unteroffizier verbietet es,
jetzt darf kein Soldat mehr gezeichnet werden, es sei denn daß ich Geld dafür nehme.
Man setzt mir den dicken Kondukteur zum Modell hin
…
26.V.
(Leon) Gestern abends kamen wir in Valladolid an ; sowie von Medina nach Salamanca
war auch diese Strecke die ödeste Fahrt, die man sich denken kann. Das Land voll-
kommen flach und in Riesenacker bzw. – Wiesen unterteilt. Nur das letzte Stück son-
derbarerweise mit Pinien bestanden. Valladolid ist eine große Stadt, nach Salamanca
vollkommen gleichgültig. Auch sie hatte eine schöne Plaza major, aber lange nicht so
schön wie die in Salamanca ; die Häuser uneinheitlich die Straßenöffnungen zu stark
betont. Die Bogengänge der Plaza ziehen sich noch einige Straßen weit. Das ist alles
–
Und auch die Kirchen sind nur wenig bedeutende alte Gehäuse um neu gekaufte
Fabriksware. Eine Ausnahme nur die beiden originellen Skulpturfassaden von
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien