Seite - 429 - in Erica Tietze-Conrat - Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Bild der Seite - 429 -
Text der Seite - 429 -
429
Tagebuch 1926
zückenden Kathedrale deren Skulpturen uns aber nach dem Portico in Santiago et-
was spielerisch vorkamen
…
Nach Tisch fuhren wir dann nach Burgos, hatten 3 Stunden Aufenthalt in Ventas
de Baños die wir „verschieben“.
2. Juni.
(Miranda de Ebro, früh, wir warten auf den Zug). Burgos gibt als Stadt keinen Ein-
druck. Der Dom ist aus dem 13. Jh., im 15. von köln’schen Meistern so unpersönlich
zuende- u. überarbeitet, dass er völlig gleichgültig bleibt. Am schönsten waren die
beiden langen Spaziergänge, die wir aus der Stadt hinaus, durch luftig-schattige Al-
leen unternahmen, von denen man d. Blick weit hin über die Hochebene hat ; am
Morgen zum Frauenzisterzienserkloster la Huelga (Erholung), das ein ganz klarer
vornehm schlichter Bau der Frühgotik (das reinste Beispiel hier) darstellt ; nachmittag
in eine Cartuja (Karthause),
– die sich nicht an die Sommerzeit hielt u. uns u. andere
½ Stunde warten ließ, bis die Pforte sich um vier Uhr öffnete
…
– die derselbe Kölner
Architekt gebaut hatte wie den Dom und in der es spätgotische (15. Jh.) Königsgrä-
ber gab.62
Am Abend reisten wir – wieder einmal der letzte einundfünfzigste Wagen an
einem Güterzug !
– nach Miranda, einem Knotenpunkt, der uns die Strecke nach Za-
ragossa, bequem zum übernachten, teilt. Die anderen Waggons hatten Schafe geladen,
die sich still verhielten u. stanken. Bei uns waren Spanier, die zwar auch stanken, aber
sich nicht still verhielten. Jeder plärrte ein anderes Lied (pfiff, trällerte, trommelte
u. s. w.) in die Landschaft hinaus, – Felsen und Schluchten eine Stadt konzessions-
los steinern und schmucklos wie eine italienische Bergstadt an dem steilen Flussufer
aufgebaut … Wenn die Neugier sie packte, kletterten sie über die hohen Lehnen ins
andere Abteil hinüber, sangen dazu u. ließen sich im Rhythmus oder in der Kadenz
abfallen. Sie wirkten wie in einer Pantomime
– oder im Affenkäfig. Um 10h waren wir
am Ziel.
Einen Eindruck an der Küste zwischen Pontevedra u. Vigo hält das Gedicht fest :
Der Fluß mündet
–
Die Uferfelsen, die sich überschlagen,
Von tollen Hufen losgesprengt
–
Die Spur der wilden Jagd in jäher Schlucht
–
Sie tragen
– lässig sich zurück,
Vom ewigen Gesetz zur Zucht gerufen
–
Halbgötter lagern sie auf heiteren Stufen
…
Und wo das Gras in feuchter Erde stand,
Die langen Algen tauchen an den Strand.
Verlegen hält die selbstverliebte Welle,
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien