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Tagebuch 1926
die schneebedeckte Kette der Pyrenäen, und wir immer durchs Ebrotal, der hier
schon mächtig breit ist. Erbarmungslos graugelbe – im Abendlicht dann goldgelbe
Steinstädte
– klettern u. kleben an den Abfällen der kahlen Felsenberge. Gerade hier
wo manches im äußerlichen Gewand an Italien erinnert tritt der Unterschied der
Landschaftsstruktur noch deutlicher hervor. Nie lieblich, immer ernst ; nie pathe-
tisch, immer in sich beruhend. Die Fruchtbarkeit nimmt gegen Süden zu ; Huerten,
Ölwälder und Wein, Wein ohne Ende. Wir hatten einen vielachsigen Wagen, der so
gelinde fuhr, dass wir beim Fahren schreiben konnten. Hans konzipiert das Feuilleton
Spanische Königsgräber. Ein junger Geistlicher – der sich nachher als Prorektor der
Universität in Burgos herausstellte – sagte ihm bewundernd, als er fertig war, „nie
hätte ein Spanier so viel, so ununterbrochen geschrieben.“ Die Unterhaltung mit dem
Geistlichen ging z[um] T[eil] über Edukation und Landessitten – er fuhr zu seiner
schwer erkrankten Schwester
…65
Wir kamen spät in Barcelona an u. fuhren am nächsten Morgen (4.) früh nach d.
Montserrat. Erst etwa 2 Stunden mit der Bahn u. dann noch […] mit dem Funicu-
lar. Von der Bahn aus sieht man schon den Felsberg mit seinen phantasieaufreizenden
Formen, die Burg von Giganten bewacht
– die Wächter !
– graugelbes nacktes Gestein ;
zu halber Höhe das Kloster und die Hotelbauten u. alles was zum Wallfahrtsbetrieb
gehört wie Schwalbennester, goldgelb auf grau, daran gerückt. Die Fahrt hinauf rollt
einem diesen geschlossenen Komplex ins Nacheinander auf. Und immer tiefer ver-
sinkt die unerhört große Ebene unten, roter Felsboden oder graugelber – je nach dem
Licht – von eisengerötetem Wasser, das wie Schlamm aussieht, den Fluß durchzogen.
Ich schreibe Ebene, es ist aber keine. Es ist eine Reliefkarte, auf der man in graphischen
Wellen die ganzen Falten des abfallenden Gesteins nachgreifen kann ; es sieht aus fast
wie eine modellierte Fensterrose der spätgotischen tollsten Ornamentik
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Der Spaziergang oben auf d. Montserrat entlang der Felsen, mit dem Blick hin-
unter ist einzigartig. Gut sitzbare Steine bieten sich an, man möchte Rasten u. bleibt
Stunden u. Stunden auf dem selben Fleck ; bis die Tiefe rauscht, und bis sie verständ-
lich spricht, zu uns herauf, die wir schon irgendwie mit dem Felsen zusammengehö-
ren. Und der aufregende Atem der Geschichte weht uns an und endlich sinkt alles
zurück ins zeitlose Sein, immer So-gewesen-sein
…67
Während der Nachmittagssiesta auf einem mühsam entdeckten Grasfleck umzieht
sich der Himmel. Wir fahren früher zurück als wir die Absicht hatten u. können
noch unsere Post im Correo holen. Eine elende Bude, dieser Correo, der gar nicht
zum Ehrgeiz d. aufblühenden Stadt passen will. (Von den Kindern gute Nachrich-
ten
– von Georg ein wenig erfreulicher Brief
…)
Der Samstag war für Barcelona selbst vorbehalten. Museum, Dom, Obstkäseein-
kauf – ein anstrengender Tag. Am Nachmittag tranken wir unsere erste und letzte
Naranjada auf spanischem Boden, fuhren mit einer elektr[ischen] Kleinbahn nach
San Cugat hinaus. Ein ewig langer Ort mit einer gelbgrauen Klosterkirche hinter
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien