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Tagebuch 1926
Geschichte ; am 2. Tag Tacitus (gut) am
3. Mathemat[ik] (gut), heut griechisch,
eine Stelle aus einem Redner, dessen
Name ich nicht einmal kenne. Er sagt, es
war nicht schwer
…74
Unlängst war über die Tests, die sie
im Lauf dieses Jahres in allen Mittel-
schulen gemacht haben (Begabungsprü-
fung) ein Vortrag, den der Leiter der
Kommission gehalten hat (Möckl). Die-
ser Herr traf gestern den Hans, der hat
ihm erzählt, dass er eine ganze Reihe
von Antworten etc. des Anderl vorge-
führt hätte (natürlich ohne Namen zu
nennen) da er sich so besonders aus-
gezeichnet hätte. Und heute war ich
mit Hans im Krystallverlag ; die Sub-
skription meines Gedichtenbuches ist
doch nicht so miserabel verlaufen, wie
ich gefürchtet hat ; ein paar Ersparnisse
(vorläufig) – es wird gemacht. Ich richte
heute das Manuskript her, Georg ist ver-
ständigt. Hab doch Freud damit
– soweit
man sich bei der jetzigen finanziellen
Gedrücktheit überhaupt freuen kann –
ich denk mir, dass jeder, der subskribiert hat, es ungern getan hat
…
7. Juli 1926
Das Schuljahr stirbt ab, die Agonie ist schmerzlos. Burgl hat ihre Aufnahmsprüfung
in die Deutsche Mittelschule (Gymnasiumstr.) sehr gut absolviert, Stoffel hat heut
oder morgen mündliche Matura, er interessiert sich nicht dafür und nimmt mir jede
Spannung. Meine Gedichte hab ich schon in den Verlag zum Drucken gebracht, der
Abschied vom Manuskript war peinlich ; so fremd und sinnlos ist ein so abgesto-
ßenes „Produkt“. Hans ist seit dem 1. Juli in der Provinz (Linz, St. Florian, Krems-
münster, Salzburg, Graz), um die Ausstellung für den Herbst (deutsche Gotik aus
Privatbesitz) fest zu machen. Mit Anderl bin ich viel zusammen, sein Skizzenbuch
das er mir während unserer Abwesenheit gezeichnet hat, ist sehr interessant ; eine
dekorativ literarische Art, fern von der Natur. Und die Ausstellung der Schülerar-
beiten, die ich mir vor 2 Tagen in der Piaristenschule ansah, hat ganz wundervolle
Sachen von ihm. Ein so inniges Naturgefühl. Er sagt mir : „Ich hab jetzt etwas neues
Abb. 91 : Spanien, ein Pastell des 12-jährigen Anderl Tietze – „eine
dekorativ literarische Art, fern von der Natur“.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien