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Tagebuch 1926
in der Elektrischen. Weißt du, der Stof-
fel sieht doch den Leuten immer an, was
für einen Beruf sie haben – ich schau sie
an, wie sie als Kinder ausgeschaut haben
mögen.“ Vroni meint : „das ist doch sehr
schwer, denn manche Leute haben sich
doch sehr verändert.“ „Es muß ja nicht
richtig sein“, sagt der Anderl ruhig. Er
war jetzt über zwei Wochen zuhause,
wegen Furunkel, hat Stifter (Studien)
und Shakespeare (Komödien) gelesen,
ist in der Sonne gelegen u. war glück-
lich. Ich habe die graphische Vorlage für
Dürers Flucht nach Egypten (Marienle-
ben) gefunden u. viel Spaß damit gehabt.
Habe das schlechte Buch von Sauerlandt
(Deutsche Barockskulptur) scharf be-
sprochen und einen schönen Abend mit
Georg in einem leeren Heurigengarten
in Grinzing verbracht. Wir haben über
die Kunst und das Leben gesprochen,
über seine Kunst, sein Leben und mein
Leben. Er lebt sehr schnell und was ihm noch vor kurzem als das Erstrebenswerteste
oder Richtigste schien, das gilt ihm heute nichts mehr. Es ist sehr schwer mit einem
Menschen, der noch alles vor sich hat, in Einklang zu kommen
…75
Die Radierungen für mein Buch – ich weiß nicht, ob er sie schon beisammen
hat – und er will doch morgen schon reisen (Donaueschingen). Er hat sich vor etwa
vierzehn Tagen die kleine Zehe gebrochen (es ist ihm ein Betteinsatz drauf gefallen)
u. humpelt mit einer Gipssohle herum, statt zu liegen. Er wird sich am Land (Gerda
ist dort mit den Eltern, Lampls
…) ausruhen.76
12. Juli 1926.
Ich muß noch von den letzten Tagen vieles nachholen. Am 7. war ich bei Georg
im Atelier, habe vieles mit ihm geordnet (gute und mindere Zeichnungen geson-
dert), die aus Köln zurückgekommenen Sachen nachgesehen, und die Platten für
mein Buch in Empfang genommen. 1.) die zurechtgeschnittene Bucklige, 2.) das eine
(kleine) Carrarablatt, das aber nicht in diese Publikation paßt, zu vielfigurig, unly-
risch u. im Herbst ausgewechselt werden soll 3.) eine neue Radierung, Mutter mit
Kind, die mir sehr lieb ist. Am nächsten Abend 8. VII. (ich war noch früh mit ihm
beim Arzt gewesen) fuhr Georg dann nach Donaueschingen und am selben Nach-
Abb. 92 : Der Maturant Christoph Tietze, ca. 1926.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien