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Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem
angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie
Die menschliche Vernunft hat hier, wie allerwärts in ihrem reinen Gebrauche,
so lange es ihr an Kritik fehlt, vorher alle mögliche unrechte Wege versucht,
ehe es ihr gelingt, den einzigen wahren zu treffen.
Alle Prinzipien, die man aus diesem Gesichtspunkte nehmen mag, sind
entweder empirisch oder rational. Die ersteren, aus dem Prinzip der
Glückseligkeit, sind aufs physische oder moralische Gefühl, die zweiten, aus
dem Prinzip der Vollkommenheit, entweder auf den Vernunftbegriff derselben
als möglicher Wirkung, oder auf den Begriff einer selbständigen
Vollkommenheit (den Willen Gottes) als bestimmende Ursache unseres
Willens gebaut.
Empirische Prinzipien taugen überall nicht dazu, um moralische Gesetze
darauf zu gründen. Denn die Allgemeinheit, mit der sie für alle vernünftige
Wesen ohne Unterschied gelten sollen, die unbedingte praktische
Notwendigkeit, die ihnen dadurch auferlegt wird, fällt weg, wenn der Grund
derselben von der besonderen Einrichtung der menschlichen Natur, oder den
zufälligen Umständen hergenommen wird, darin sie gesetzt ist. Doch ist das
Prinzip der eigenen Glückseligkeit am meisten verwerflich, nicht bloß
deswegen weil es falsch ist, und die Erfahrung dem Vorgeben, als ob das
Wohlbefinden sich jederzeit nach dem Wohlverhalten richte, widerspricht,
auch nicht bloß weil es gar nichts zur Gründung der Sittlichkeit beiträgt,
indem es ganz was anderes ist, einen glücklichen, als einen guten Menschen,
und diesen klug und auf seinen Vorteil abgewitzt, als ihn tugendhaft zu
machen: sondern weil es der Sittlichkeit Triebfedern unterlegt, die sie eher
untergraben und ihre ganze Erhabenheit zernichten, indem sie die
Bewegursachen zur Tugend mit denen zum Laster in eine Klasse stellen und
nur den Calcul besser ziehen lehren, den spezifischen Unterschied beider aber
ganz und gar auslöschen; dagegen das moralische Gefühl, dieser
vermeintliche besondere Sinn, (so leicht auch die Berufung auf selbigen ist,
indem diejenigen, die nicht denken können, selbst in dem, was bloß auf
allgemeine Gesetze ankommt, sich durchs Fühlen auszuhelfen glauben, so
wenig auch Gefühle, die dem Grade nach von Natur unendlich von einander
unterschieden sind, einen gleichen Maßstab des Guten und Bösen abgeben,
auch einer durch sein Gefühl für andere gar nicht gültig urteilen kann)
dennoch der Sittlichkeit und ihrer Würde dadurch näher bleibt, dass er der
Tugend die Ehre beweist, das Wohlgefallen und die Hochschätzung für sie ihr
unmittelbar zuzuschreiben, und ihr nicht gleichsam ins Gesicht sagt, dass es
nicht ihre Schönheit, sondern nur der Vorteil sei, der uns an sie knüpfe.
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Titel
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Autor
- Immanuel Kant
- Datum
- 1785
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 70
- Schlagwörter
- Philosophie, Vernunft, Aufklärung, Ethik, Kritik
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorrede 4
- Erster Abschnitt 9
- Zweiter Abschnitt 20
- Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten 20
- Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit 48
- Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit 49
- Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie 50
- Dritter Abschnitt 54
- Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens 54
- Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden 56
- Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt 57
- Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 61
- Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie 63
- Schlussanmerkung 70