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Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen
Wesen vorausgesetzt werden
Es ist nicht genug, dass wir unserem Willen, es sei aus welchem Grunde,
Freiheit zuschreiben, wenn wir nicht eben dieselbe auch allen vernünftigen
Wesen beizulegen hinreichenden Grund haben. Denn da Sittlichkeit für uns
bloß als für vernünftige Wesen zum Gesetze dient, so muss sie auch für alle
vernünftige Wesen gelten, und da sie lediglich aus der Eigenschaft der
Freiheit abgeleitet werden muss, so muss auch Freiheit als Eigenschaft des
Willens aller vernünftigen Wesen bewiesen werden, und es ist nicht genug, sie
aus gewissen vermeintlichen Erfahrungen von der menschlichen Natur
darzutun (wiewohl dieses auch schlechterdings unmöglich ist und lediglich a
priori dargetan werden kann), sondern man muss sie als zur Tätigkeit
vernünftiger und mit einem Willen begabter Wesen überhaupt gehörig
beweisen. Ich sage nun: Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee
der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich
frei, d. i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit
unzertrennlich verbunden sind, eben so als ob sein Wille auch an sich selbst
und in der theoretischen Philosophie gültig für frei erklärt würde. Nun
behaupte ich: dass wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat,
notwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein
handle. Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die
praktisch ist, d. i. Kausalität in Ansehung ihrer Objekte hat. Nun kann man
sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewusstsein in
Ansehung ihrer Urteile anderwärts her eine Lenkung empfinge, denn alsdann
würde das Subjekt nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe die
Bestimmung der Urteilskraft zuschreiben. Sie muss sich selbst als Urheberin
ihrer Prinzipien ansehen unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muss
sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens von ihr
selbst als frei angesehen werden; d. i. der Wille desselben kann nur unter der
Idee der Freiheit zuletzt zurückgeführt; diese aber konnten wir praktischer
Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden.
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Buch Grundlegung zur Metaphysik der Sitten"
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Titel
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Autor
- Immanuel Kant
- Datum
- 1785
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 70
- Schlagwörter
- Philosophie, Vernunft, Aufklärung, Ethik, Kritik
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorrede 4
- Erster Abschnitt 9
- Zweiter Abschnitt 20
- Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten 20
- Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit 48
- Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit 49
- Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie 50
- Dritter Abschnitt 54
- Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens 54
- Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden 56
- Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt 57
- Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 61
- Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie 63
- Schlussanmerkung 70