Seite - 63 - in Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
Bild der Seite - 63 -
Text der Seite - 63 -
Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie
Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei. Daher kommen alle
Urteile über Handlungen als solche, die hätten geschehen sollen, ob sie gleich
nicht geschehen sind. Gleichwohl ist diese Freiheit kein Erfahrungsbegriff
und kann es auch nicht sein, weil er immer bleibt, obgleich die Erfahrung das
Gegenteil von denjenigen Forderungen zeigt, die unter Voraussetzung
derselben als notwendig vorgestellt werden. Auf der anderen Seite ist es eben
so notwendig, dass alles, was geschieht, nach Naturgesetzen unausbleiblich
bestimmt sei, und diese Naturnotwendigkeit ist auch kein Erfahrungsbegriff,
eben darum weil er den Begriff der Notwendigkeit, mithin einer Erkenntnis a
priori bei sich führt. Aber dieser Begriff von einer Natur wird durch
Erfahrung bestätigt und muss selbst unvermeidlich vorausgesetzt werden,
wenn Erfahrung, d. i. nach allgemeinen Gesetzen zusammenhängende
Erkenntnis der Gegenstände der Sinne, möglich sein soll. Daher ist Freiheit
nur eine Idee der Vernunft, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist,
Natur aber ein Verstandesbegriff, der seine Realität an Beispielen der
Erfahrung beweiset und notwendig beweisen muss.
Ob nun gleich hieraus eine Dialektik der Vernunft entspringt, da in
Ansehung des Willens die ihm beigelegte Freiheit mit der Naturnotwendigkeit
im Widerspruch zu stehen scheint, und bei dieser Wegescheidung die
Vernunft in spekulativer Absicht den Weg der Naturnotwendigkeit viel
gebahnter und brauchbarer findet, als den der Freiheit: so ist doch in
praktischer Absicht der Fußsteig der Freiheit der einzige, auf welchem es
möglich ist, von seiner Vernunft bei unserem Tun und Lassen Gebrauch zu
machen; daher wird es der subtilsten Philosophie eben so unmöglich, wie der
gemeinsten Menschenvernunft, die Freiheit wegzuvernünfteln. Diese muss
also wohl voraussetzen: dass kein wahrer Widerspruch zwischen Freiheit und
Naturnotwendigkeit ebenderselben menschlichen Handlungen angetroffen
werde, denn sie kann eben so wenig den Begriff der Natur, als den der
Freiheit aufgeben.
Indessen muss dieser Scheinwiderspruch wenigstens auf überzeugende Art
vertilgt werden, wenn man gleich, wie Freiheit möglich sei, niemals begreifen
könnte. Denn wenn sogar der Gedanke von der Freiheit sich selbst, oder der
Natur, die eben so notwendig ist, widerspricht, so müsste sie gegen die
Naturnotwendigkeit durchaus aufgegeben werden.
Es ist aber unmöglich, diesem Widerspruch zu entgehen, wenn das Subjekt,
was sich frei dünkt, sich selbst in demselben Sinne, oder in eben demselben
Verhältnisse dächte, wenn es sich frei nennt, als wenn es sich in Absicht auf
63
zurück zum
Buch Grundlegung zur Metaphysik der Sitten"
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Titel
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Autor
- Immanuel Kant
- Datum
- 1785
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 70
- Schlagwörter
- Philosophie, Vernunft, Aufklärung, Ethik, Kritik
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorrede 4
- Erster Abschnitt 9
- Zweiter Abschnitt 20
- Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten 20
- Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit 48
- Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit 49
- Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie 50
- Dritter Abschnitt 54
- Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens 54
- Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden 56
- Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt 57
- Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 61
- Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie 63
- Schlussanmerkung 70