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96 Tagebücher
in welche sich ein eben messe lesender Priester rettete, als die türken ein-
drangen, und aus der er wieder hervortreten wird, wenn die stunde der
Befreyung geschlagen hat.
nachdem wir hierauf in einem türkischen caffehhause wie ein Barba-
renheer eingebrochen waren und dort Alles aufgezehrt hatten, was sie hat-
ten und wir mitbrachten, sahen wir das prächtige mausoleum, welches der
jetzige sultan seinem vater sultan mehmed und der sultaninn validè1
hat errichten lassen, dann noch 2 moscheen, die des sultan Achmet und
sulimaniè, letztere vom großen soliman erbaut, mit den anstoßenden mo-
scheen solimans und seiner sultaninn, der berühmten roxelane, beyde
moscheen prächtig und groß, von griechischen Baumeistern (wie Alle) so
ziemlich nach dem modelle der s. sophia erbaut (hohe kuppel). Weiter
sahen wir den berühmten Platz des hippodroms, wo die großen byzantini-
schen spiele gehalten wurden, in der mitte ein großer ägyptischer obelisk
mit einem schönen Piedestal von Justinian, weiter ein 2. obelisk und da-
zwischen eine gewundene große säule von erz, die aus dem tempel von
delphi stammen soll. nahe dabey ist die berühmte unterirdische cisterne
mit 1001 säulen, ein kolossaler Wasserbehälter von der reinsten byzanti-
nischen Architektur, wo jetzt seile gesponnen werden. diese wenigen re-
ste und noch etwa 12–15 ehemalige kirchen, die jetzt moscheen sind, sind
Alles, was von Byzanz und dem 1100jährigen kaiserreiche des orients
übrig geblieben ist! – –
diese Parthie hatte volle 7 stunden gedauert, und es war 5 uhr, als wir
müde und matt nachhause kamen.
morgen gibt der französische Botschafter dem Prinzen napoléon zu
ehren einen großen Ball, wozu er auch mich eingeladen hat, ich bin noch
zweifelhaft, ob ich gehen werde. heute ist diner beym sultan, wobey auch
Bruck geladen ist. mad. cohen reist heute nach triest zurück.
die stellung der großmächte wird hier eine immer verwickeltere, die
pompösen rüstungen der Westmächte gehen sehr langsam von statten, die
Schwierigkeiten der Verpflegung, der Kriegführung und des Nachschubs in
diesen entfernten ländern zeigen sich immer mehr, man kratzt sich hin-
ter den ohren, mit der entente cordiale zwischen ihnen geht es auch so
so, ihrerseits ziehen die russen den krieg in die länge, das hauptaugen-
merk der Westmächte ist nun dahin gerichtet, uns einzufädeln, und die-
ses scheint ihnen nach und nach zu gelingen. Wenigstens begehen wir so
eben die kolossale dummheit, uns ohne alle noth gegen den griechischen
Aufstand zu erklären, das wäre also ein loch in die preußische Allianz,
noch ehe sie ratificirt ist, denn in Preußen und ganz Deutschland ist man
1 die mutter des thronfolgers bzw. sultan-mutter.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien