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Juni 1854
dieß, um uns einen schönen morgen anzugreifen. vor etwa 14 tagen kann
man übrigens die russische Antwort auf unser ultimatum nicht haben.1 die
Brücke zwischen rußland und uns scheint abgebrochen, der kaiser persön-
lich sehr antirussisch, und auch mit dem status quo ante bellum wird man
sich, wenigstens scheint es jetzt so, hier nicht begnügen. gott wolle es, denn
das befürchtete ich. Bruck wird rasen.
Bis hieher billige ich Alles, nur nicht die hast, mit der man sich in der
letzten Zeit benommen und rußland sich an den hals gesetzt hat, denn das
scheint jetzt der fall zu seyn, da ist der junge herr vorgeprellt.
ich finde die stimmung hier seit dem vorigen Jahr bedeutend ernster
und unzufriedener geworden, namentlich durch die trostlosen materiellen
Zustände, bevorstehende Zwangsanleihen, steuererhöhungen etc., welche
die wenigen gutgesinnten und die vielen indifferenten bey der empfindlich-
sten seite packen, es ist merkwürdig, wie man jetzt leute reden hört, die
noch vor 8 monaten nicht höher als auf den kaiser schworen. in der hiesigen
Aristocratie, der miserablesten menschenklasse der Welt, macht nebstdem
hauptsächlich das Auftreten gegen rußland stutzen. Was mich persönlich
betrifft, so bemerke ich, ohne recht zu wissen warum, eine bedeutende Annä-
herung selbst von seiten Jener, die mir noch im vorigen Jahr aus dem Wege
gingen, es liegt etwas wie Ahnung eines umschwunges in der luft, daß ich
in den mittleren und niedern classen beliebt und mehr noch geachtet bin,
habe ich noch nie so sehr bemerkt als jetzt.
übrigens gehört für mich eine nicht geringe dosis geschicklichkeit dazu,
um in dieser verwirrung der Parteyen und diesem chorus von leidenschaf-
ten aller Art anstandslos durchzusteuern, um so mehr als ich durch meine
reise (welche in diesem krähwinkel an sich schon eine Art evénément ist
und doppelt so in dem jetzigen Augenblicke) und auch durch die kammer-
herrngeschichte noch mehr als gewöhnlich ein gegenstand der Aufmerk-
samkeit bin. mir ist es begreiflicher Weise jetzt nicht darum zu thun, meine
eigentliche Ansicht über die Weltfrage auszusprechen (womit ich übrigens
wahrscheinlichst keiner Partey ganz genügen würde) und dieselbe dann
wenn auch noch so brillant durchzufechten. dergleichen casino- und sa-
lontriumphe reizen mich nicht mehr, in der wirklich practischen Welt aber
liegen die dinge noch so kunterbunt durcheinander, daß keine Berechnung
möglich ist, so entschieden antirussisch der kaiser ist, so entschieden sind
auch seine Antipathieen für england und Alles, was zur englischen Partey
gerechnet wird, nämlich liberale, constitutionelle etc., und es würde viel-
leicht nur einer kühnen und geschickten Wendung des czaren bedürfen, um
1 in der sommation vom 3.6.1854 hatte österreich russland ultimativ aufgefordert, die of-
fensive an der donau einzustellen und die fürstentümer zu räumen.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien