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Jänner 1855
daß sie ignoranz und gleichgültigkeit gegen Alles vernünftigere, ernstere,
gegen jedes gespräch, das über theater, Pferde und klatsch hinausgeht,
affektiren, mehr noch als dieß wirklich der fall ist, daß sie die dummheit,
gleichgültigkeit und Alltäglichkeit auf den Altar stellen, während in jenen
kreisen geradezu das streben nach dem entgegengesetzten mode ist, daher
auch ein vernünftiger liberalismus im gegensatze zu dem starren stehen-
bleiben der Aristocratie. die männer sind freylich die partie honteuse jener
gesellschaft, dagegen die frauen weit liebenswürdiger und gebildeter als
unsere damen, daher auch nach und nach immer mehr überläufer aus der
Aristocratie und auch schon fast die ganze diplomatie sich um sie sammeln.
[Wien] 29. Jänner
die kälte, besonders aber der schnee wirkt schmerzhaft und aufregend
auf meine nerven. diese Bärenheimath ist kein land für mich, namentlich
jetzt nicht, wo soviele andere dinge dazu kommen, um meine unbehaglich-
keit und restlessness zu erhöhen, vor Allen anderen diese ungewißheit und
unthätigkeit, seit bald 8 monaten sitze oder vielmehr campire ich nun hier,
immer wartend, immer mit einem fuße im Bügel, ohne ein nur halbwegs
comfortables chez moi, denn meine Bücher und sachen sind noch immer,
seit herbst 1853, verpackt, nicht in der ruhe und stimmung, mich mit ir-
gend etwas zu beschäftigen, und ebensowenig in der lage, einen entschluß
fassen zu können, bis es entschieden ist, ob ich von hier oder vom Auslande
aus den Zweck verfolgen werde, welcher nunmehr der vorwiegende, ja der
einzige gedanke meines lebens geworden ist. diese 8 monathe und deren
erlebnisse sammle ich sorgfältig auf und lege sie zu den frühern.
Bruck wird in 3–4 tagen hier erwartet, ob er annehmen wird, ist noch
immer ungewiß, thut er es, so opfert er sich ohne resultat, das ist auch
die allgemeine Ansicht. niemand erwartet etwas von ihm, weil niemand
an die möglichkeit glaubt, daß noch zu helfen sey, wie verändert wird er
Alles in den 1 1/2 Jahren, während welcher er von hier weggewesen, finden!
ein unangenehmer vorläufer für ihn ist übrigens eine ziemlich unvorsich-
tige tischrede, die er so eben erst in constantinopel gehalten, und welche
alle Zeitungen wiedergaben, sollte er plötzlich ein russenfresser geworden
seyn?1 ich glaube kaum, er hat nur einen ehrgeiz mehr: minister der aus-
1 internuntius Bruck hatte nach dem „Journal de constantinople“ bei einem diner im Bei-
sein des großvesirs am 2.1.1855 gesagt (vgl. etwa der Wanderer v. 23.1.1855): „dort haben
die türken die russen in allen treffen besiegt und dem hofe von st. Petersburg gezeigt,
daß sie siegreich die rechte der türkei gegen seinen ehrgeiz vertheidigen konnten. gleich
den Westmächten will oesterreich für das recht und die gerechtigkeit kämpfen und wie
auch die lösung des krieges sein möge, sagte der internuntius schließlich mit einer Beto-
nung, deren mächtige Wirkung wir nicht wiederzugeben vermöchten, rußland wird nicht
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien