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bedeutend weniger, an der leber, wozu sich noch andere Zustände gesellen,
welche bey einer lebhaften organisation, die durch die umstände (vorur-
theile und die krüppelhafte constitution unserer gesellschaft, sollte man
eigentlich sagen) zum coelibate verurtheilt ist, nie ausbleiben, kurz sie ist
in einem kränkelnden Zustande, welcher durch psychische leiden, vor Al-
lem durch den tod der armen königinn Adèle, erhöht werden, und muß ein
Bad, kissingen oder marienbad, gebrauchen. dabey hat sie die unglückli-
che eigenschaft, über ihrem kummer und den gedanken an die leere ihrer
existenz zu brüten, anstatt wie ich dergleichen gefühle um jeden Preis ge-
waltsam abzuschütteln, es fehlt ihr in dieser Beziehung ganz an elasticität.
dazu kam noch für mich das Bedürfniß, wieder einmal nach so langem
stillesitzen Platz und luft zu wechseln, welches Bedürfniß bey nieman-
dem so lebhaft ist als bey mir. endlich und vielleicht mehr als Alles Andere
trieb mich die Beobachtung von hier fort, daß mir in der letzten Zeit meine
Praeoccupation hinsichtlich gabriele neuwall’s so sehr über den kopf ge-
wachsen war, daß ich die nothwendigkeit empfand, wieder einmahl in eine
andere Atmosphaere zu kommen. diese Praeoccupation hatte für mich et-
was peinliches, drückendes, der ewige kampf mit einer sich sträubenden,
widerstrebenden natur, welche jeden tag von neuem beginnt, irritirt mich
und raubt mir das gleichgewicht, ich bin nicht roué genug (und will es in
diesem falle nicht seyn), um diesen inneren kämpfen einer loyalen, edlen
und bisher ruhigen frau gelassen zuzusehen, und nicht mehr unbefangen
genug, um zurückzutreten, selbst wenn dieses sonst möglich wäre, kurz es
gibt sturm und drangsale, welche mir den gleichmuth auf tage rauben,
der doch mein höchstes und mühsam errungenes gut ist, dessen ich drin-
gend bedarf, um meine lebensaufgabe zu erfüllen.
ich fuhr also am 14. nach Preßburg und brachte den Abend recht an-
genehm bey valérie Zichy zu, wo ich unter Andern Paul esterhazy, zum
ersten mahle seit 1848, wieder sah. tags darauf fuhr ich mit toni szápáry
und franzi huniady nach Pesth, wo ich diesen und den folgenden tag blieb,
den ersten Abend bey gabrielle, den 2. mit ihr bey den czirákys. ich hatte
eine unterredung mit gabrielles Arzt, dr. moskovics, die mich so ziemlich
beruhigte. gestern fuhr ich zurück (mit Alexander Auersperg, dem für-
sten, nicht dem dichter1) und war Abends hier. Dieser kurze Ausflug hat
mir wohlgethan.
hier stehen die dinge auf der spitze, die russische Antwort auf das
durch drouin de l’huys überbrachte ultimatum ist angekommen, und man
erwartet nächstens eine entscheidende sitzung der conferenz, da die Be-
1 gemeint ist Prinz Alexander Auersperg aus der fürstlichen linie, und nicht graf Anton
Alexander Auersperg (Anastasius grün).
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien