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April 1855
vollmächtigten der Westmächte um Weisungen angesucht haben.1 in der
crim wird unterdessen fortwährend scharmüzelt. die friedenshoffnungen
sind so ziemlich auf null herabgesunken, die einzige frage, die noch zwei-
felhaft ist, ist: werden wir an dem kriege theilnehmen oder eine bewaffnete
neutralität oder etwas dem Ähnliches erklären? An einen activen krieg ge-
gen rußland glaubt merkwürdigerweise bey uns niemand, auch die Armée
nicht, am allerwenigsten die generale, ich aber sage: wenn die Westmächte
wollen, so haben sie uns, das ist die folge einer regierung, wie wir sie seit
5 Jahren besitzen.
[Wien] 24. April
die conferenzen sind aus, wie vorauszusehen war ohne resultat. lord John
russell ist abgereist, drouindelhuys vor der hand noch hier, man sagt, um
l. napoléon zu erwarten, der nächstens hieher kommen soll, um unsere
active theilnahme am kriege zu erzwingen und zu erdrohen, denn darum
handelt es sich jetzt allein mehr, und die unterhandlungen zwischen den
Westmächten und uns über den sinn und die tragweite des vertrags vom
2. december haben bereits begonnen. Preußen und die deutschen kläffer
sind wieder in voller thätigkeit und hoffen, uns in der neutralität festzu-
halten, solange rußland uns nicht angreift, und allerdings sind hier eine
menge kleinlicher und persönlicher Bedenken und umstände zu überwin-
den, ehe es zu einer förmlichen kriegserklärung gegen rußland kömmt.
dennoch ist es meine überzeugung, daß es dahin kommen wird.
Wir hatten durch 8–10 tage schon beynahe sommerhitze, seit 3 tagen
ist es wieder empfindlich kalt, der Thermometer sank bis auf Null, und wir
hatten mitunter schneegestöber!
die italienische oper ist in vollem gange und ziemlich gut. Alexander
trubetzkoi ist hier und geht sans condition nach Petersburg, ich habe
seine frau mit vergnügen wieder gesehen, eine liebliche niedliche er-
scheinung.
neben meiner geliebten gabriele [neuwall], die mich jetzt unbedingt
in erster linie beschäftigt, und neben den öffentlichen Angelegenheiten
nehme ich ein lebhaftes und immer steigendes interesse an den naturwis-
senschaften, welche ich bisher fast ganz vernachlässigt habe. Wenn auch
das feld zu ausgedehnt und es für mich überhaupt zu spät ist, um mich
diesen studien förmlich zu widmen, so interessire ich mich doch auf das
lebhafteste an den Resultaten der neuen und neuesten forschungen auf
1 es handelte sich um den dritten der vier Punkte der forderungen der Westmächte (vgl.
eintrag v. 9.12.1854), nämlich die Änderung des dardanellenvertrags und damit den
Bruch der militärischen herrschaft russlands im schwarzen meer.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien