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18314.
Juni 1855
uns auf Augenblicke, bey mir zum glücke nur auf Augenblicke, die mühsam
bewahrte fassung raubt, ein solcher moment ist für mich der gegenwärtige.
voran steht die Wendung in unserer Politik, in unserer miserablen halb-
heit und hasenfüßerey schrecken wir vor den consequenzen unserer seit ei-
nem Jahr befolgten Politik zurück und erklären uns de facto neutral, gerade
in dem momente, wo wir hätten losschlagen sollen, und wo die Alliirten mit
kraft und erfolg vorwärtsgehen, versäumen die vielleicht nie wiederkeh-
rende gelegenheit, ein unabhängiges oder wenigstens getrenntes Polen (nach
den verträgen von 1815) zwischen uns und rußland einzuschieben, und hin-
dern sogar die Westmächte, denen doch an dieser sache weit weniger gelegen
seyn sollte als uns, es zu thun, verderben es mit allen Partheyen und werden
beym friedensschlusse hohn und schande anstatt eines vortheiles ernten.
der kaiser ist nach galizien zur Armée, das bedeutet reducirung und heim-
zug, anderwärts, wenn der souverain zur Armée geht, bedeutet es vorwärts
gehen, kampf und ruhm, c’est une canaille aussi stupide que lâche.
Bruck, der diese unglückselige Wendung durchgesetzt oder wenigstens
seinen theil daran hat (in guter Absicht), setzt nichts Anderes durch und
ist in übelster laune, seine reformideen werden scheitern, und nach eini-
gem finanziellen hocus pocus wird er abtreten, das ist meine vorhersagung.
selbst in persönlichen dingen kann er nicht durchdringen, daß man nicht an
seine stabilität glaubt, erhöht die schwierigkeiten, auf die er überall stößt,
für mich z.B. gibt er sich alle erdenkliche mühe, weil er weiß, daß er mich,
im falle er seine Pläne zur reform der inneren organisation durchführen
sollte, brauchen wird und mich verhindern will, mich anderswohin zu wen-
den, aber er kann nichts erreichen, die mission nach Persien kömmt auf die
lange Bank, weil Buol an dem persischerseits vorgelegten handelsvertrags-
entwurfe mängel entdeckt hat, welche noch vorläufig ausgeglichen werden
müssen, von einer anderen diplomatischen verwendung will Buol oder viel-
mehr Werner und die hinter diesem stehende camarilla der staatskanzley
nichts hören, die marotte mit suez wird ohnehin, wie mir scheint, im sande
verlaufen durch den Widerstand der engländer und durch die schon begon-
nene eisenbahn von cairo dahin, die Administratorsstelle im Banate scheint
im Prinzipe (nicht hinsichtlich meiner Person) auf Widerstand im verwal-
tungsrathe der eisenbahngesellschaft zu stoßen, jetzt gibt sich also Bruck
nur mehr alle mühe, um mich in diesen verwaltungsrath, wo eben eine stelle
leer ist, zu bringen, und ich habe auf sein wiederholtes drängen auch einige
schritte dazu gethan, das muß sich nun in wenig tagen entscheiden. general
rousseau wird von fürst Windischgrätz und einigen ungarischen Altconver-
sativen lebhaft vorgeschlagen, wir wollen sehen, wessen einfluß überwiegt.
dieser Platz würde übrigens weder durch große thätigkeit meine Zeit ausfül-
len, noch wäre es pecuniär sehr wünschenswerth, vielleicht (aber auch nur
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien