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die öffentlichen gebäude sind beleuchtet, vorgestern wurde auf den kai-
ser geschossen. hier erwartet Alles einen langen krieg, obwohl derselbe in
frankreich, wo man an nichts als an das geldmachen denkt, nicht populair
ist, umgekehrt ist es in england. man kokettirt hier stark mit Piemont
und der italia libera, nächstens dürfte gegen neapel ein streich geführt
werden, das sind lauter gelinde schläge gegen uns, welche in verbindung
mit dem fall von sebastopol nicht ohne Wirkung bleiben dürften, denn mit
dem stärkeren halten und sich durch die furcht bestimmen lassen, das ist
ja der hauptzug unserer „ritterlichen“ Politik.
das Wetter ist, seit ich Wien verließ, herrlich.
[Paris] 13. september
heute war großes tedeum in notredame für die einnahme von sebastopol,
das ganze diplomatische corps, sogar der preußische gesandte!!, waren
zugegen, der kaiser wurde ziemlich lebhaft empfangen, ich fand ihn üb-
rigens leidend aussehen, und er soll es auch in hohem grade seyn. um
2 uhr war in sämmtlichen theatern freyer eintritt, Abends eine ziem-
lich ärmliche Beleuchtung, welcher aber durch das regenwetter geschadet
wurde, im ganzen habe ich hier, trotz Allem was die Zeitungen sagen,
außerordentlich wenig, wenigstens äußerliche, theilnahme an jenem gro-
ßen ereignisse bemerkt, anders soll es in england seyn, eigentlich fängt
der krieg erst jetzt an, es heißt, man will noch vor dem Winter die crim
zu erobern trachten, die man dann, einem abenteuerlichen Projekte ge-
mäß, sardinien geben will, die Actien dieses königreiches stehen bey den
Alliirten sehr hoch, und es war eine gesunde Politik von seiner seite, sich
diesen anzuschließen, über kurz oder lang wird das seine früchte tragen.
Auf jeden fall wird man jetzt in london und hier die saiten nur noch hö-
her spannen.
hübner soll hier sehr unbeliebt geworden seyn, wie und wodurch, weiß
ich noch nicht, wahrscheinlich ist er nur ein unschuldiges opfer unserer
zweyzüngigen Politik, man ist uns hier und in england spinnefeind.
Das Hauptereigniß für mich aber ist, daß meine vortreffliche Mrs. Nor-
ton gestern hier angekommen ist, ich hatte sie von Wien aus gebethen, mir
hier die freude ihres Besuches zu machen, und sie ist gekommen. ich sah
sie heute wie natürlich fast den ganzen tag, sie brachte mir eine dringende
einladung des guten alten lord lansdowne nach Bowood, die mich einiger-
maßen in verlegenheit setzt, weil ich nicht weiß, wie ich sie auf eine gute
Art ablehnen kann.
gabrielli schrieb mir heute, er kommt übermorgen an und hofft, daß
die neue Wendung der kriegsereignisse auch seine Angelegenheit fördern
dürfte, da werde ich dann wieder zu thun bekommen.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien