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schade, jetzt in der stadt bleiben zu müssen, auch will ich übermorgen auf
einige tage nach lösch fahren, später vielleicht zu Breuner etc.
Als ich am 6. michel mit allen möglichen Plänen, documenten, nachwei-
sungen und empfehlungen versehen von hier expedirt hatte, zugleich an
talabot ein langes schreiben und ein ditta an gustav lerchenfeld in dieser
Angelegenheit erlassen hatte, glaubte ich von hier wegzukönnen, da in sa-
chen der Westbahn vorerst, und bis ich von Paris Antwort erhalte, was wohl
nicht vor Anfang des kommenden monats geschehen kann, nichts weiter zu
thun war, auch flore, der ich mit creditbriefen etc. nach Paris behülflich
seyn mußte, war am 3. abgereist, und ebenso am tage darauf gabriele neu-
wall. darnach hielt mich die Angelegenheit wegen der neuen creditanstalt
auch diese tage fest, da ich erstlich meine subscription und einzahlungen
für dieselbe ins reine zu bringen hatte und dann auch wegen der Art und des
Zeitpunktes der Wahl des verwaltungsrathes mich näher informiren mußte.
Bruck möchte mich nämlich im verwaltungsrathe haben, mir aber, wie das
seine gewohnheit ist, es überlassen, dafür schritte zu thun, um sich die in-
itiative zu ersparen, wozu ich indeß keine große lust verspüre, so sehr ich
auch diese Wahl wünsche, da sie mir nicht nur eine höchst interessante, um-
fangreiche und auch lucrative Beschäftigung verspräche, sondern mir auch
in politischer Beziehung wünschenswerth wäre, es ist das erstemahl, daß der
Adel bey uns wirkend auftritt, das erste Beyspiel einer Adelscoalition aus
allen Provinzen, es kann daher diese verbindung ganz unerwartete und sehr
bedeutende Proportionen annehmen.1 Aber eben deßhalb kann es mir nicht
gleichgültig seyn, auf welche Art ich in das leitende comité eintrete.
man spricht gegenwärtig von nichts anderm als von der creditanstalt,
unsere ganze hiesige Aristocratie beißt an den glänzenden köder der specu-
lation an, das hat seine bedenkliche seite, bey einer classe, welche so wenig
intelligenz, so wenig politischen verstand, so wenig sittlichen halt hat, kann
diese einseitige richtung sehr weit führen, anstatt dummen gentlemen, was
sie bisher waren, werden sie zu dummen Juden werden.
[Wien] 21. november
meine Abreise nach lösch verzögerte sich um einige tage, indem am Abende
zuvor, nämlich am 11., egbert hier ankam und 2 tage hier blieb,2 eine der
hauptursachen seiner hieherkunft war eben auch, um sich in sachen der
neuen creditanstalt (die jetzt Alle vorzugsweise beschäftigt) ein Bißchen
1 gründer der credit-Anstalt für handel und gewerbe (siehe eintrag v. 19.10.1855) waren
neben dem Bankhaus rothschild und dem Bankier louis haber mehrere hochadelige groß-
grundbesitzer.
2 Besitzer des guts lösch bei Brünn war Andrians cousin graf egbert Belcredi.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien