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führe ich ein unglaublich langweiliges und in gesellschaftlicher hinsicht lee-
res leben, in die sogenannte große Welt gehen kann ich sowol wegen meiner
stellung zum hofe als auch aus anderen gründen nicht, und würde es auch,
wenn das nicht wäre, nicht thun, da es nichts faderes und geistloseres gibt
als diese langweiligen altbekannten gesichter, die nebstdem mit jedem
Jahre kleinstädtischer werden, meine hoffnung, bey gabriele neuwall einen
angenehmen salon einrichten zu können, ist durch die dumme eifersucht ih-
res mannes vereitelt worden, und eine andere interessante gesellschaft gibt
es hier nicht, vielleicht komme ich einmahl in die lage, gelehrte und andere
interessante Persönlichkeiten bey mir zu versammeln, doch geht das jetzt
noch nicht, und daneben wird mir der umgang mit geistreichen angeneh-
men frauen immer ein Bedürfniß bleiben, und zwar eines, welches nirgends
so schwer zu befriedigen ist als hier.
so bin ich denn größtentheils auf theater und casino angewiesen, mise-
ria, meine geliebte gabriele sehe ich oft, doch nicht oft genug, um daß sie mir
von aller der ressource wäre, welche sie bey ihrem klaren verstande und
ihrer rührenden liebe zu mir seyn könnte, da wir ihren mann ménagiren
müssen, doch liebe und verehre ich sie täglich mehr, denn sie ist eine Perle,
und ihre schönheit ist noch der geringste ihrer vorzüge. Andererseits glaube
ich auch, daß ich in mancher Beziehung vortheilhaft auf sie einwirke. meine
schwester gabrielle ist am 28. mit ihrem hofe nach ofen abgereist, um etwa
3 monathe dort zu bleiben, für mich eine große lücke. gottfried ist seit 8
tagen hier auf urlaub.
der ganze continent ist in einem ekelhaften friedensrausche, ekelhaft,
weil derselbe auf nichts als speculationswuth und schmutzige gaunerey
hinausläuft, die Papiere steigen überall, und so auch hier, wie toll, das silber
ist bis auf 7 gefallen, alle Papiere, namentlich industriepapiere, schwindel-
haft gestiegen, man glaubt, den frieden schon im sacke zu haben, und wirk-
lich wird es diesem allgemeinen taumel gegenüber immer schwerer werden,
das schwert wieder zur hand zu nehmen, wenn also rußland aufrichtig war
und aufrichtig bleibt, so glaube ich jetzt selbst an frieden, worauf aber ruß-
land alsobald anfangen wird, seine alten Pläne auf neuen Wegen zu verfol-
gen. nur in england herrscht, wie immer, ehrenhaftigkeit und nüchtern-
heit.
ich bin daher jetzt oft in low spirits, weil ich eine Periode der Jüdeley vor
mir sehe, während welcher man auf Alles Andere vergessen wird, könnte ich
sie verschlafen! meine richtung hat mit dieser nichts zu schaffen.
die Angelegenheit der Westbahn ist noch so ziemlich auf demselben
Punkte wie vor 14 tagen, daß ich in die Administration gewählt werden
werde, scheint so ziemlich abgemacht, mit meinem Worte aber oder vielmehr
mit seinem eigenen Worte, welches Bruck durch mich gegeben hat, scheint
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien