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genweile und der dummheit heimgesucht. ein mensch haßt den Andern,
sucht ihm nach möglichkeit ein Bein unterzuschlagen.1 mein einziger Zu-
fluchtsort ist das hyperlangweilige casino und die fast ebenso traurigen
theater. gabriele neuwall sehe ich zu selten, und das verhältniß, in wel-
chem ich zu ihrer umgebung, namentlich zu ihrem manne stehe, ist ein zu
geschraubtes, als daß sie mir von einer eigentlichen ressource wäre, und sie
kann ihren und meinen Wunsch, einen angenehmen kreis von menschen
um sich zu versammeln, aus eben diesem grunde nicht erfüllen. es ist fast
unglaublich, wie schwer es hier wird, einige leute zu finden, gegen die es
der mühe werth wäre, den mund aufzuthun, nicht als ob es dergleichen
hier nicht gäbe, denn an männern der Wissenschaft, und um diese ist es
mir hauptsächlich zu thun, ist kein mangel, aber sie sind vergraben und
unzugänglich, während sich die dummheit und selbstzufriedene ignoranz
aller Arten breit macht und einem die nerven agacirt, ich wenigstens habe
es noch nicht dahin gebracht, bey dergleichen stupiden expectorationen ge-
lassen bleiben zu können, und fahre manchmal (obwol viel seltener als sonst)
sackgrob darein.
mein umgang beschränkt sich daher auf einige wenige frauen, gabriele
neuwall, elise Biedermann und meine alte freundin ida Bombelles, von
männern sehe ich zuweilen schmerling, kleyle, sommaruga, habacher, max
gagern und im casino fritz schwarzenberg, carl Jablonowsky, drachenfels,
so ziemlich die einzigen, mit denen sich zuweilen ein vernünftiges Wort re-
den läßt.
moritz esterházy ist als erstes opfer des concordates, gegen welches
er sich stark ausgesprochen hatte, gefallen. colloredo ersetzt ihn in rom,
Appony diesen in london. ich habe neulich die Bekanntschaft sir hamil-
ton seymour’s gemacht, nachdem wir uns lange Zeit gegenseitig vergebens
aufgesucht hatten, die veranlassung gab ein Brief von mrs. norton, und er
schien sehr begierig, mich kennen zu lernen. meine gesundheit und in folge
dessen sogar mein humor war bisher, unberufen, weit besser als seit langer
Zeit, nicht die geringste unpäßlichkeit, nicht einmahl ein schnupfen oder
catarrh befielen mich in diesem Anfangs strengen und immer unregelmä-
ßigen Winter, ich schreibe dieses kissingen zu, da ich die gleiche erfahrung
auch im Winter 1852–3 machte, obwol dieses Bad eine unmittelbar wohlthä-
tige Wirkung auf meinen unterleib jetzt wie damals nicht gehabt hat.
[Wien] 4. märz
Alle Aufmerksamkeit concentrirt sich täglich mehr auf und um die Börse,
der schwindel und die Agiotage steigen mit jedem tage, und die regierung
1 ein Bein stellen, zu fall bringen.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien