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Juli 1856
eine freye Bewegung unserer Presse. Aber er hat gerade dieser seiner ei-
genschaften wegen einen schweren stand dem kaiser gegenüber, der sich
viel in auswärtige dinge mischt, jeder momentanen laune und einflüste-
rungen zugänglich ist, ohne ein system oder eine leitende idée zu haben,
oder auch nur ehrgeiz zu haben. die spannung mit rußland wird hiernach
täglich größer und überträgt sich nun schon auf das immer russischer wer-
dende Preußen, in folge dessen verlieren wir täglich mehr unsere stellung
in deutschland, und Bismark regiert in frankfurt. ebenso brouillirt sind wir
mit dänemark, wo wir einen patriotischdeutschen Anlauf zu gunsten der
herzogthümer genommen haben.
für Alles dieses suchen wir ersatz in einer möglichst intimen Allianz mit
louis napoléon und erkaufen sie durch eine unbedingte nachgiebigkeit im
orient und in den fürstenthümern. in italien verfolgen wir unseren speciell
österreichischen haß, wobey louis napoleon einstweilen zusieht, während
wir dadurch in england immer unpopulairer werden. seinerseits steht na-
poleon, unser einziger Alliirter, auf sehr precären füßen, und wenn die re-
volution in spanien siegen sollte, wird diese stellung noch prekärer werden.1
da talabot noch nicht sobald hier eintreffen kann, so wird sich die con-
stituierung der italiänischen eisenbahngesellschaft wohl noch 5–6 Wochen
verzögern, ich gedenke daher, in einigen tagen nach deutschland zu gehen,
und habe gustav diezel ein rendezvous in heidelberg gegeben. ich will dort
sehen, ob an ihm eine passende Acquisition für unsere Journalistik in mei-
nem sinne zu machen wäre.
Augsburg 31. July Abends
ich habe einige tage in heidelberg zugebracht, welche mir ebenso wohlthu-
end als angenehm gewesen sind, ferne von dem geldmacherischen treiben,
das jetzt durch die Welt geht, und dennoch im mittelpuncte vieler der größ-
ten fragen unserer Zeit und in einem kreise von ausgezeichneten, ernsthaf-
ten männern. gagern ist ganz der alte, wie er 1848 vom Präsidentenstuhle
sprach, so spricht er jetzt in seiner schreibstube, mit demselben tone, in
demselben Pathos, dabey aber keine spur von Affectation oder eitelkeit,
eine rührende einfachheit, ja sogar naivetät, ein antiker, grandioser cha-
rakter, aber eine beschränkte intelligenz. robert mohl ist ebenfalls unver-
ändert geblieben, einer der liebenswürdigsten gelehrten, die ich kenne. dr.
meyer, der ehemalige Privatsekretär des Prinzen Albert, ein lebendiges re-
pertorium alles Wissenswürdigen.
1 Am 14.7.1856 hatte ein kabinett der liberalen union unter graf leopoldo o’donnell die
seit 1854 regierenden Progressisten abgelöst. Bereits im oktober 1856 übernahmen jedoch
die Moderados unter Ramón María Narváez die Macht.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien