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Tagebücher278
die arme mutter zu grunde und denkt und sinnt an nichts Anderes mehr.
schade um sie, ihr geist hatte nie einen hohen flug, sie war nie brillant,
nicht einmal eigentlich geistreich, aber sie hat eine unendlich angenehme,
liebenswürdige, gebildete conversation, voller kenntnisse, Belesenheit,
und ein bewundernswürdiges gedächtniß für ihre und anderer leute er-
lebnisse, dabey eine große Wärme der empfindung, eine gewisse gemüth-
liche hauspoësie, und eine manchmal sogar etwas übertriebene mond-
scheinschwärmerey einer englischen miss, hatte dazu immer unter den
ausgezeichnetesten menschen aller länder gelebt und in einem kreise ern-
ster großartiger politischer thätigkeit. Alles dieses verliert sich nun in dem
interesse und der Angst um die gesundheit fletchers und sein verhältniß
zu signora tambesi und um Brinsleys Zukunft und seine rodomontaden.
man beschäftigt sich jetzt hier sehr mit neapel und will gegen den könig
die energischesten schritte unternehmen, während man in Wien zu glau-
ben scheint, daß england hierbey im vordergrunde stehe, behaupten hier
viele engländer, l. napoléon habe den hintergedanken, über kurz oder lang
neapel für einen napoléoniden zu erwerben, und werde nicht ruhen, bis er
diesen realisirt habe.1
[Paris] 1. oktober
Wir haben durch mehrere tage ein scheußliches herbstwetter gehabt mit
regen und sturm, bey solchem Wetter ist Paris nichts weniger als ange-
nehm, zum glücke scheint das jetzt vorüber zu seyn. doch ist es auch mit
der Wärme und dem nachsommer für dieses Jahr vorbey, welch ein unter-
schied gegen das herrliche Wetter, welches voriges Jahr um diese Zeit hier
herrschte!
Auch gibt es dieses Jahr sehr wenige Bekannte für mich hier, oder habe
ich sie doch bisher nicht gesehen, meine freundinn norton, welche mit ih-
rer gewöhnlichen unpünktlichkeit und unentschlossenheit ihre Abreise
von tag zu tag aufschiebt, sehe ich natürlich alle tage, gestern aß ich mit
ihr und hayward (einem litterarischen und politischen faiseur aus london,
welcher aber ebendeßhalb recht gut zu brauchen ist) bey den trois fréres
und war dann Abends mit ihnen im vaudeville. der liederliche taugenichts
Brinsley macht seiner armen mutter viel bitteren kummer, woran sie wohl
zum theile selbst schuld trägt.
handsome, but wild“ charakterisiert, während es zu seiner frau heißt, „an italian peasant
girl of capri, ‚who turned out the best of wives and mothers‘.“
1 die diplomatischen versuche frankreichs und englands, die regierung in neapel zu po-
litischen und wirtschaftlichen reformen zu bewegen, wurden schroff zurückgewiesen. Zu
einer militärischen intervention kam es jedoch nicht, dagegen beriefen die Westmächte im
oktober 1856 ihre gesandten aus neapel ab.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien